Um eine totale Ausgangssperre zu verhindern und die Ausbreitung von Covid-19 trotzdem einzudämmen, hat ein israelisches Start-up ein cleveres Instrument entwickelt, das seit der zweiten Märzwoche angewandt wird. Mithilfe von Big Data erkennt es drei bis vier Tage im Voraus, wo sich die gefährlichsten Corona-Hotspots bilden werden.
Auf einem »Hitzediagramm« sehen die Behörden die künftigen Gefahrenzonen, in denen sich die Krankheit ausbreiten wird, sowie Bevölkerungsgruppen, für die der Virus-Erreger zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders gefährlich ist. Risikoregionen können so bis auf Gemeinden, Städte oder Stadtteile heruntergebrochen und isoliert werden. »Damit erübrigt sich der Lockdown eines ganzen Landes«, sagt Kira Radinsky, die Ende 2017 zusammen mit dem Computerguru Yonatan Amir und dem Roboter-Experten Moshe Shoham die Firma Diagnostic Robotics gegründet hat.
Radinsky sagte bereits den Ausbruch der Cholera-Epidemie in Kuba voraus.
Sie setzen auf leistungsstarke Superrechner, die im Nu Terabytes verarbeiten. Die Computer werden mit Daten gefüttert, die sie täglich von Bürgern erhalten. Auf dem Fragebogen, der per SMS versandt wird, geben sie anonym Auskunft über typische Corona-Symptome wie Kopfschmerzen oder Fieber. Zudem nennen sie Vorerkrankungen und ihre Wohnregion. Infizierte ohne Symptome fallen zwar durchs Netz, räumt Radinsky ein. Die Auswertung lasse aber trotzdem erkennen, wo sich die Krankheit demnächst ausbreiten wird.
«Je mehr Daten wir haben«, sagt die 33-jährige Wissenschaftlerin, »umso präziser und zielgenauer sind unsere Prognosen. Das ermöglicht Hinweise, in welchen Regionen eine Öffnung möglich und in welchen sie nicht angezeigt ist.« Dann liegt der Ball bei den Politikern. Sie haben zu entscheiden, über welche Stadtteile oder Dörfer eine Ausgangssperre verhängt wird.
MUSTER Dass ihr datengestützter Blick in die Zukunft frühzeitige Alarmsignale ermöglicht, konnte Radinsky in den vergangenen Jahren bereits mehrfach belegen. So sagte sie zum Beispiel den Ausbruch der Cholera-Epidemie in Kuba voraus – die erste seit 130 Jahren.
Zwei Faktoren traten auf, die ihre Algorithmen aus anderen Regionen zuvor als vorauslaufende Risiko-Indikatoren für eine Cholera-Epidemie erkannt hatten: ein niedriger Lebensstandard und eine Dürreperiode, die zu einer Verknappung des Trinkwassers führt, gefolgt von einem starken Sturm. »Ich konnte für Kuba vor dem Ausbruch der Epidemie ein klares Muster erkennen und wusste: Eine Flut, die ein Jahr nach einer Dürre eintritt, führt oft zu Cholera-Epidemien.«
In der Fachwelt ist die junge Computerwissenschaftlerin seit Jahren eine gefragte Expertin. Sie trat in Sendungen und TEDTalks auf, referierte an »Wall Street Journal«-Konferenzen oder bei Microsoft. Als eine erfolgreiche Unternehmerin sorgt sie selbst im Hightech-Land Israel für Aufsehen. Ein von ihr gegründetes Start-up, das für eine zweistellige Millionensumme von eBay gekauft wurde, prognostiziert Konsumtrends.
ALGORITHMUS Radinsky, die einen schwarzen Karate-Gürtel erlangt hat, entwarf bereits als Kind einen Programmiercode. Die Hochbegabte wurde als 15-Jährige zum Studium am Technion in Haifa zugelassen. Für ihre Doktorarbeit, die sie summa cum laude abschloss, wertete sie alle Artikel aus, die seit 1851 in der »New York Times« erschienen waren, zudem Tweets und Webinformationen.
Mit den Informationen fütterte sie Superrechner und kreierte einen Algorithmus, der die Beiträge lesen konnte. »Meine Leidenschaft ist die Voraussage der Zukunft«, sagt sie. Sie wolle die Menschheit mit wissenschaftlichen Fähigkeiten ausstatten, mit denen sich künftige Ereignisse aufgrund von Lektionen aus der Vergangenheit automatisch antizipieren lassen. »Das ermöglicht ein rechtzeitiges Eingreifen, um eine Katastrophe zu verhindern.«
Ein neuer Virenschub kann erkannt werden, bevor die Krankheit erneut ausbricht.
Bei der Corona-Krise hat ihr Alarm-Instrument zwar anfänglich nicht ausgeschlagen. »Wir konnten die Epidemie mithilfe Künstlicher Intelligenz nicht frühzeitig erkennen, weil es sich um ein neues Virus handelt. Nur bei Viren, die bereits mehrmals und an mehreren Orten aufgetreten sind, können wir den neuen Schub rechtzeitig erkennen, bevor die Krankheit erneut ausbricht.«
DISKRIMINIERUNG Aber jetzt, da das Virus bekannt ist, ermöglicht Big Data eine Feinabstimmung für Abwehrmaßnahmen. Die Radinsky-Methode hat allerdings ihre politischen Tücken, wie das Beispiel Israel zeigt. Städte, die aufgrund der aufkommenden Gefahr abgeriegelt werden sollen, kritisieren das als »Diskriminierung« gegenüber dem Rest der Nation. Aber bereits jetzt interessieren sich neun westliche Länder für die Big-Data-Strategie, darunter auch die USA und Großbritannien.
Die Big-Data-Lösung macht eine totale Ausgangssperre überflüssig. Das würde dem Land enorm hohe ökonomische Kosten ersparen. So stieg in Israel die Arbeitslosigkeit explosionsartig auf mehr als 25 Prozent, und die Konjunktur könnte in diesem Jahr um rund sechs Prozent schrumpfen.