Nirim / Nir Oz

»Verzeih, dass es uns nicht gelungen ist, dich lebendig zurückzubringen«

Plakate mit Fotos von Geiseln; Schutzräume an Bushaltestellen, auf die Botschaften wie »Das Volk Israel lebt« und »Tod den Terroristen« gesprüht wurden; Denkmäler für die Opfer. Die Straßen am Gazagürtel, dem israelischen Grenzgebiet zu Gaza, offenbaren die tiefe Wunde, die der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober gerissen hat. Bis heute begraben Hinterbliebene hier ihre Opfer: Yoram Metzger, Chaim Peri und Alex Dancyg aus Kibbuz Nir Oz, Nadav Popplewell und Yagev Buchshtab aus Kibbuz Nirim. Lebendig nach Gaza entführt und als Leichen geborgen, werden in diesen Tagen zur letzten Ruhe gebettet.

An der Zufahrt zum Kibbuz Nirim staut sich der Verkehr. Menschen mit israelischen und den gelben Fahnen der Geiselfamilien säumen das letzte Stück des Weges zum Friedhof in den Avocadohainen. Hunderte sind gekommen, um Yagev Buchshtab die letzte Ehre zu erweisen. Manche von ihnen tragen Zettel mit der handschriftlichen Botschaft »Slicha«. Slicha, die hebräisch-jüdische Bitte für Vergebung, auf die die Betroffenen des 7. Oktober bis heute vergeblich von der politischen Führung des Landes warten: Es wird das dominante Wort der Trauerfeiern in Nirim und dem benachbarten Kibbuz Nir Oz an diesem Abend.

»Du hattest Besseres verdient«

»Noch nicht!«, schluchzt Witwe Rimon, die zusammen mit Yagev Buchshtab entführt, aber nach 53 Tagen freigelassen wurde. Ihr Arm ist in Richtung der in die israelische Flagge gehüllten sterblichen Überresten ihres Mannes gestreckt, ihr Oberkörper so weit in der Grube, dass sie abzurutschen droht. »Slicha, slicha, slicha.« Dann beeilen sich die Männer, das Grab zuzuschaufeln. »Verzeih, dass es uns nicht gelungen ist, dich lebendig zurückzubringen«, sagt die Mutter in ihrer Ansprache, »verzeih, dass du heute nicht hier unter uns bist, obwohl wir alles dafür getan haben«, die Schwester. »Verzeih, du hattest Besseres verdient«, so die Witwe.

Jetzt endlich könnten sie weinen, sagt ein Onkel des Toten. In den Schmerz mischt sich Wut über den unnötigen Tod eines geliebten Menschen; über die Chancen für ein Geiselabkommen, die die Regierung in ihren Augen verstreichen ließ. »Es ist absurd: In allem Schmerz gehören wir zu den Glücklichen, denn wir haben ein Grab, an dem wir weinen können.« Der Satz einer Familie am Grab des 35-jährigen ermordeten Sohnes zeigt das Ausmaß des Dramas.

Eine Stunde später, knapp fünf Kilometer weiter südlich, sind die Szenen ganz ähnlich. Weit vor dem Tor des Kibbuz Nirim parken Autos der Trauergemeinde am Straßenrand; Trauernde halten Fahnen in den Händen. Brandruinen säumen den Weg zum Friedhof, das liebevoll bemalte Haus inmitten von ihnen ein anachronistischer Gegenpol.

Leichen in einem Hamastunnel geborgen

Hier wird Avraham Munder zu Grabe getragen. Auch seine Leiche wurde am Montag von der israelischen Armee aus einem Hamastunnel in Gaza geborgen. Auf dieses Ende habe sie in den Monaten des Hoffens und Bangens nichts und niemand vorbereitet, sagt seine Schwester. »Slicha, dass das Land, das du so geliebt hast, uns so verlassen hat«, ergänzt die Kibbuzsprecherin. »Slicha«, dass ich dich, der du immer so bescheiden warst, so berühmt gemacht habe«, bittet Munders Nichte.

Im Grab daneben ist Avrahams Sohn Roi beerdigt. Der 50-jährige Fußballfan, der am 7. Oktober in seinem Haus in Nir Oz ermordet wurde, war zunächst an anderer Stelle beigesetzt worden, findet seine letzte Ruhe nun aber neben seinem Vater. »Verzeih, wenn wir dir nicht immer die Freunde waren, die wir hätten sein sollen«, sagt Rois Jugendfreund Jair Moses, dessen Vater Gadi noch immer in Hamasgefangenschaft ist.

Beisetzungen ohne Regierungsvertreter

Regierungsvertreter sucht man allerdings vergebens. Vermutlich wären sie auch nicht willkommen gewesen. Er habe sich oft gefragt, was sein Onkel gedacht habe, als die Terroristen in sein Haus eindrangen, sagt Avraham Munders Neffe vor dem aufgebahrten Sarg; in den Monaten in Gaza, in denen der Staat keine Chance ausgelassen habe, einen Geiseldeal zu verpassen; als Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Philadelphi-Korridor zwischen Gaza und Ägypten als unaufgebbar, weil »strategische Sicherheitsressource«, bezeichnete. »Munder hätte gesagt: Herr Netanjahu, seit seiner Gründung sind die strategischen Ressourcen Israels seine Werte.« Dann tönen die Verse der israelischen Dichterin Leah Goldberg aus den Lautsprechern: »Lass mich gehen, oh lass mich gehen, um am Ufer der Vergebung zu knien.«

Für die Buchshtabs in Nirim und die Munders in Nir Oz hat sich der Kreis geschlossen. Der Kampf, sagen sie, sei damit noch lange nicht vorbei. Man werde nicht aufhören, bis alle Geiseln wieder Zuhause sind.

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