Kaum im Amt und schon im Wahlkampfmodus. »Der Staat Israel ist größer als wir alle«, so Yair Lapid in seiner ersten Ansprache als Ministerpräsident am Samstagabend. »Er ist wichtiger als jeder von uns.« Zwar habe es schon immer unterschiedliche Meinungen zu politischen Fragen gegeben, doch sei das Klima derzeit geradezu vergiftet.
»Warum ist diese Polarisierung bedrohlicher als jemals zuvor?« Die Antwort auf seine rhetorische Frage lieferte der neue Premier gleich mit. »In Israel dringt der Extremismus nicht von der Straße in die Politik ein. Genau das Gegenteil ist der Fall. Er fließt wie Lava von der Politik auf die Straße. Die politische Atmosphäre ist immer extremer, gewalttätiger und bösartiger geworden und reißt die israelische Gesellschaft mit sich. All das müssen wir stoppen. Das wird unsere Herausforderung sein.«
Namen nannte Lapid in diesem Zusammenhang keine. Das musste er auch nicht. Denn allen ist klar, wer er damit meinte: Benjamin Netanjahu. Als Oppositionsführer hatte der frühere Ministerpräsident alles unternommen, um die heterogene Acht-Parteien-Koalition zu diffamieren, die ihn vor mehr als einem Jahr aus dem Amt gedrängt hatte. Vor allem die Tatsache, dass an dem Bündnis eine arabische Partei beteiligt war, sollte Netanjahu stets reichlich Munition liefern.
HOFFNUNG Auch jetzt legte man nach. Unmittelbar nach der Rede Lapids wurde vom Likud das Schreckgespenst einer neuen Koalition an die Wand gemalt, in der die Araber das Sagen hätten. »Eine solche Regierung ist eine echte Gefahr für die Sicherheit Israels«, hieß es in einer Erklärung. »Man hat jetzt die Wahl zwischen einem erpressbaren Lapid-Kabinett mitsamt der Muslimbruderschaft und der Vereinten Arabischen Liste oder eben einer starken nationalen Regierung unter der Führung von Netanjahu und dem Likud, die Israel wieder Hoffnung geben wird.«
Lapid oder Netanjahu – auf dieses Duell dürfte es wohl hinauslaufen.
Äußerungen dieser Art geben einen Vorgeschmack auf den kommenden Wahlkampf. Lapid oder Netanjahu – auf dieses Duell dürfte es wohl hinauslaufen, nachdem der ehemalige Knesset-Sprecher Yuli Edelstein im Likud-internen Wettbewerb um die Kandidatur einen Rückzieher gemacht hatte. Wie bereits in den vier Wahlgängen zuvor wird sich alles erneut um Personen drehen und weniger um Sachfragen. Dass dabei ganz nach dem Motto »Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht« gehandelt wird, ist ebenfalls vorhersehbar. Der Likud wird Lapid als Marionette der Araber diskreditieren. Umgekehrt liefert die Aussicht, dass im Falle eines Wahlsiegs von Benjamin Netanjahu der Neo-Kahanist Itamar Ben Gvir mit am Kabinettstisch sitzen könnte, der Gegenseite reichlich Stoff für eine Neuauflage ihrer »Nur nicht Bibi«-Kampagne.
UMFRAGEN Nur wer am 1. November das Rennen macht, das weiß natürlich noch niemand. Aktuell liegt der Likud in den Umfragen mit 34 Sitzen vorne, gefolgt von Lapids Jesch Atid mit 22 Mandaten. Alles hängt von den anderen Parteien ab, mit denen dann Lapid oder Netanjahu ein Bündnis schmieden müssen, um auf eine Mehrheit von mindestens 61 Stimmen in der Knesset zu kommen. Und da dürfte es für einige recht eng werden. So würden die Linkszionisten von Meretz derzeit kaum die 3,25 Prozent-Hürde schaffen, um wieder ins Parlament einziehen zu können, weshalb es nicht unwahrscheinlich ist, dass sie eine Listenverbindung mit der Arbeitspartei eingehen.
Meretz ist nicht die einzige Partei mit Existenzängsten. Angefangen von Ra’am über die Tikva-Hadascha-Gruppierung von Likud-Abweichler Gideon Sa’ar gibt es gleich mehrere Wackelkandidaten. Sogar bei Yamina brodelt es heftig – vor allem, nachdem Naftali Bennett seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hatte und aller Voraussicht nach Ayelet Shaked das Ruder übernimmt. Weil die amtierende Innenministerin eher zum Lager von Netanjahu tendiert, erklärte ihr Parteigenosse Matan Kahana, Minister für religiöse Angelegenheiten, ihr da die Gefolgschaft zu verweigern. »Mein Ziel ist es, den Weg, den ich mit Bennett beschritten habe, weiterzugehen«, ließ er über Facebook und Twitter wissen.
Viele kleine Parteien werden von Existenzangst geplagt.
Bei den Ultraorthodoxen herrscht ebenfalls nicht eitel Sonnenschein. Kürzlich forderte Moshe Gafni vom Vereinigten Tora Judentum, dem Bündnis aus Agudat Yisrael und Degel HaTora, eine Senkung der 3,25-Prozent-Hürde auf zwei Prozent. Man könnte ja dann vielleicht wieder getrennter Wege gehen. »Er glaubt, dass er mehr Stimmen bekommt, wenn Degel HaTorah allein und nicht als Teil der Gesamtpartei kandidiert«, kommentierte Avi Grinzweig, ein Beobachter der ultraorthodoxen Szene, diesen Vorstoß. Ein Sprecher von Lapid erklärte aber bereits, dass dieses Thema absolut nicht auf der Agenda stehe – selbst wenn andere Parteien über einen solchen Schritt vielleicht nicht unglücklich gewesen wären.
BEREITSCHAFT Und da ist dann noch die Frage, ob sich prominente Figuren einer der bestehenden Parteien anschließen werden oder womöglich selbst eine gründen könnten. Aktuell dreht sich alles um Gadi Eisenkot. Sollte er sich dazu durchringen, Jesch Atid beizutreten, wäre das für Lapid ein Booster. Doch auch Benny Gantz von der zentristischen Blau-Weiß-Partei umwirbt den populären ehemaligen Generalstabschef gerade heftig.
Last but not least ist unklar, in welcher Stärke die Vereinte Arabische Liste in die Knesset zurückkehren wird. Das hängt von der Bereitschaft der israelischen Araber ab, am 1. November an die Wahlurnen zu gehen. Aktuell wollen nur 40 Prozent von ihnen ihre Stimme abgeben, 4,6 Prozentpunkte weniger als 2021. »Es herrscht der Eindruck, dass es sich nicht ausgezahlt hatte, als man sich zur Vereinten Arabischen Liste zusammenschloss«, bringt Yousef Makladeh, ein politischer Analyst, die Stimmung auf den Punkt. »Auch der Beitritt von Ra’am in die Koalition habe sich nicht gelohnt.« Aber vielleicht wendet sich das Blatt bis zum Herbst ja wieder. Denn eines weiß man aus der Vergangenheit mit Sicherheit: Israelische Wahlen sind immer gut für große Überraschungen.