Was soll ich euch sagen? Es gibt einfach nichts Größeres, als an Rosch Haschana bei mir zu sein!» Diese überlieferten Worte des Rabbi Nachman von Breslov machen den Wunsch vieler Anhänger der chassidischen Breslov-Bewegung deutlich, sich zum Neujahrsfest am Grab des 1772 geborenen Gelehrten zu versammeln. Er verstarb 1810 in Uman. In der heute in der Ukraine gelegenen Stadt, etwa 200 Kilometer von Kiew entfernt, ist das Grab eine Pilgerstätte.
Einer der Anhänger von Rabbi Nachman ist der in Jerusalem lebende Rabbiner David Kraus. «Seit 2006 fliege ich jedes Jahr nach Uman zum Rebben, mindestens zweimal im Jahr bin ich dort und mindestens einmal pro Jahr mit der ganzen Familie», erzählt er unserer Zeitung. Er schätzt, dass auch in diesem Jahr wieder etwa 30.000 bis 40.000 Gläubige allein aus Israel zu Rosch Haschana nach Uman reisen werden. Und das, obwohl zahlreiche offizielle Stellen aufgrund des russischen Angriffskrieges dringend davon abraten.
atmosphäre Rabbiner Kraus erklärt, was eine Pilgerfahrt nach Uman ausmacht: «Dies ist die Stadt der Sehnsüchte. Die Atmosphäre, vor allem, was dort bei Rabbi Nachman mit und in einem passiert, ist unglaublich und unbeschreiblich. Man muss dort gewesen sein, es gespürt und erlebt haben, um es zu verstehen.»
Die Jerusalemer US-Botschaft hat am Donnerstag vergangener Woche eine Warnung herausgegeben.
Gefahren nehme er ernst, aber die Kraft des Glaubens schenke ihm Zuversicht. Und schließlich lebe man auch in Israel unter ständiger Bedrohung: «Ich war dieses Jahr schon zweimal dort und habe auch das Grab des Baal Schem Tov besucht, und alles war sicher. Vom Krieg ist nichts zu sehen oder zu spüren. Das Kriegsgeschehen spielt sich viel weiter von dort ab.»
Das sieht zum Beispiel die Jerusalemer US-Botschaft ganz anders. Sie hat am Donnerstag vergangener Woche eine Warnung herausgegeben. Diese lautet unmissverständlich: «Reisen Sie nicht.»
empfehlung Die Empfehlung gelte für US-Bürger, die eine Wallfahrt nach Uman während Rosch Haschana erwägen: «Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben russische Luftangriffe in allen Teilen des Landes zivile Gebäude und kritische Infrastrukturen, einschließlich Gotteshäuser, getroffen, oft ohne oder mit nur geringer Vorwarnung. Erst im Juni wurde Uman von mehreren russischen Raketenangriffen heimgesucht.» Auch das israelische Außenministerium hat eine Reisewarnung für die Ukraine ausgesprochen und vor Pilgerfahrten nach Uman gewarnt.
Zudem könnte sich in diesem Jahr auch die Einreise schwierig gestalten. Visafragen werden diskutiert. Denn inzwischen ist die Angelegenheit auch zum Politikum in den schon länger belasteten Beziehungen zwischen beiden Ländern geworden. Aktuell löste die Unterzeichnung eines israelisch-russischen Kulturabkommens heftige Kritik auf ukrainischer Seite aus. Ungeachtet der internationalen Boykotte gegen Russland haben Jerusalem und Moskau in der vergangenen Woche eine Kooperation im Filmbereich beschlossen. Kiew reagierte mehr als gereizt.
Wiederholt soll es laut Medienberichten auch zuvor zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sein, was unter anderem die Einbestellung des ukrainischen Botschafters Jewgen Kornijtschuk ins israelische Außenministerium zur Folge hatte.
Ein Streitpunkt ist Israels Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine. So soll ukrainischen Staatsbürgern, die als Touristen ins Land kommen, die Abschiebung drohen, wenn die Behörden den begründeten Verdacht haben, dass sie illegal bleiben wollen. Zudem soll es Pläne zur Einstellung der Gesundheitsversorgung geben.
BOTSCHAFT Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte im August, dass die «Rechte der ukrainischen Bürger garantiert werden müssen.» Israel nannte er dabei nicht ausdrücklich. Aber am nächsten Tag stellte Kornijtschuk klar, dass Selenskyjs Botschaft an Israel gerichtet war.
Die Ukraine werde die Demütigungen ihrer Bürger bei der Einreise nach Israel nicht dulden und ihre Politik der Visafreiheit mit Israel beenden, so wurde Kornijtschuk von verschiedenen Medien zitiert. Jerusalemer Beamte wiesen Berichten zufolge eine Drohung des ukrainischen Botschafters in Israel als unbegründet zurück, wonach Kiew als Vergeltung für die Abschiebung von Ukrainern durch Israel seine Grenzen für israelische Pilger auf dem Weg nach Uman schließen würde.
Es gibt also viel zu besprechen. So telefonierten Israels Premier Benjamin Netanjahu und der ukrainische Präsident Selenskyj am vergangenen Donnerstag miteinander. Anschließend äußerten sich beide in den sozialen Medien. Netanjahu schrieb auf X (früher Twitter): «Wir sprachen über die Fortsetzung der israelischen Hilfe für die Ukraine, auch für Flüchtlinge aus der Ukraine, die sich in Israel aufhalten, und über die weitere Förderung der Hilfe bei der Entwicklung von Zivilschutzsystemen.» Zudem habe er die Notwendigkeit angesprochen, die Ankunft der Gläubigen in Uman in diesem Jahr «so weit wie möglich sicherzustellen, um die Freiheit der Religionsausübung zu gewährleisten».
Wolodymyr Selenskyj teilte mit, dass man erörtert habe, «wie sichergestellt werden kann, dass die Visafreiheit für ukrainische Bürger uneingeschränkt funktioniert, und wie die Sicherheit der chassidischen Juden bei ihrer jährlichen Pilgerfahrt nach Uman gewährleistet werden kann».
BEDROHUNG Die Ukraine habe die Pilger immer herzlich willkommen geheißen und die Verantwortung für ihre Sicherheit übernommen, so Selenskyj weiter. «Angesichts der Bedrohung durch russische Raketen und iranische Drohnen ist die diesjährige Pilgerfahrt mit hohen Sicherheitsrisiken verbunden. Unsere Luftschutzbunker haben eine Kapazität für etwa 11.000 Menschen. Es ist ein rasches gemeinsames Handeln erforderlich, um die Sicherheit von mehr Menschen zu gewährleisten.»
Schätzungen zufolge könnten bis zu 40.000 Gläubige aus Israel nach Uman reisen.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte am Sonntag während der wöchentlichen Kabinettssitzung vor den Gefahren einer Reise nach Uman. Israelische Bürger, die dennoch in die Ukraine reisen würden, müssten die persönliche Verantwortung dafür übernehmen. Trotzdem genehmigte die Regierung vier Millionen Schekel finanzielle Hilfe für die Pilger.
grenzübergänge Damit sollen unter anderem an den Grenzübergängen zur Ukraine Zelte aufgestellt und hebräischsprachige Helfer eingesetzt werden. Netanjahus Bemerkung: «Historisch gesehen hat Gott uns nicht immer beschützt, vor allem nicht in Europa und der Ukraine», löste heftigen Widerspruch in streng religiösen Kreisen aus.
Warnende Worte aus Kiew und Jerusalem. Aber auch sie werden viele Pilger wohl nicht davon abhalten, irgendwie von Israel nach Uman zu reisen. Wie sie glauben, ist das ganz im Sinne von Rabbi Nachman, von dem auch dieser Satz überliefert sein soll: «Es ist nicht so, dass ihr alle auf mein Rosch Haschana angewiesen seid, die ganze Welt hängt davon ab!» (mit kna)