Auf den Märkten des Landes quellen die Stände mit Granatäpfeln nur so über, in den Supermärkten türmen sich die Gläser mit Honig im Sonderangebot. Fast so wie in jedem Jahr. Doch nur fünf Tage vor dem Beginn des jüdischen Neujahrfestes Rosch Haschana herrscht wenig feierliche Stimmung in Israel. Stattdessen bereiten sich die Menschen im Land auf einen zweiten landesweiten Lockdown vor, der zunächst zwei Wochen dauern soll.
PESSACHFEST Die letzte komplette Abriegelung hatte während des Pessachfestes im April stattgefunden und die Wirtschaft des Landes stark geschädigt. Teilweise lag die Arbeitslosigkeit bei 27 Prozent. Seit einigen Wochen hat sie sich auf 20 Prozent eingependelt, aber Experten gehen davon aus, dass sie mit einem zweiten Lockdown wieder ansteigen wird.
Am Donnerstag war die Maßnahme vom sogenannten Corona-Kabinett vorläufig angenommen worden, jedoch hatte es Gegenstimmen von Ministern gegeben. Noch am Sonntag hat die Regierung vor, endgültig darüber abzustimmen. Geplant ist, dass die Abriegelung in den frühen Morgenstunden von Erew Rosch Haschana (Freitag, 18. September) beginnt und in drei Phasen abläuft.
Im TV-Kanal zwölf hat ein Kabinettsminister den Lockdown anonym als »Wahnsinn« bezeichnet.
Vor allem Geschäftseigentümer machen sich große Sorgen vor einer weiteren Schließung umfassender Bereiche der Wirtschaft. Viele drohen, sich nicht an die Restriktionen halten zu wollen. Sie meinen, sie hätten nichts mehr zu verlieren, weil diese ihre stark angeschlagenen Geschäfte ohnehin zerstören würden.
»Ich habe alles zusammengekratzt, was ich hatte, bei Eltern und Freunden gebettelt«, erzählt der Eigentümer eines Live-Musik-Clubs in Tel Aviv. »Nur, um den Laden zu retten.« Seit Monaten sei es ein ständiges Auf und Ab. »Mal darf ich für Veranstaltungen öffnen, dann wieder nicht. Einige Wochen darauf sind Festivals erlaubt, also veranstalte ich die. Damit war ich für den gesamten September ausgebucht. Ich hatte sogar wieder ein wenig Zuversicht.«
PLÄNE Die geplanten Veranstaltungen hätten nicht nur den Eigentümer und seine Familie über Wasser gehalten, er hatte sogar wieder zwei Leute angestellt, die seit April arbeitslos waren, sagt er und schüttelt dann resigniert den Kopf. Mit dem nahenden Lockdown wird er seine Türen wieder einmal absperren müssen. »Woran soll ich noch glauben, worauf noch hoffen? Dieses zweite Mal überstehen wir nicht.«
Tourismusminister Asaf Zamir (Blau-Weiß) und Wirtschaftsminister Amir Peretz (Arbeitspartei) haben sich offen gegen die Sperrmaßnahme ausgesprochen. Im Kanal zwölf des israelischen Fernsehens hatte ein Kabinettsminister den Lockdown anonym als »Wahnsinn« bezeichnet. Die Vorsitzende des Corona-Kabinetts, Yifat Shasha-Biton, gab zu, sie hoffe, der Plan werde ad acta gelegt.
Auch viele Hotelbesitzer sind erschüttert. Nicht nur, dass sie seit nahezu einem halben Jahr keine Gäste aus dem Ausland beherbergen können und viele am Rande des Ruins stehen, jetzt wird voraussichtlich auch das Geschäft mit inländischen Besuchern während der Feiertage in Israel zunichte gemacht. Besonders die Badestadt Eilat am südlichen Zipfel des Landes ist extrem hart getroffen. Hier liegt die Arbeitslosigkeit noch immer bei 40 Prozent.
»Dies ist ein schwerer Tag für das Land, doch es geht hier um Leben und Tod.«
Gesundheitsminister Yuli Edelstein
Sogar Finanzminister Israel Katz, ein enger Verbündeter von Premierminister Benjamin Netanjahu, plädierte für eine Abschwächung der Maßnahmen. Doch Gesundheitsminister Yuli Edelstein wollte hart bleiben und nicht zulassen, dass der Lockdown beschränkt wird. Trotz harscher Kritik aus anderen Ministerien und großen Teilen der Bevölkerung betonte er am Sonntag, es brauche diesen extremen Schritt, um die steigende Zahl an Coronavirus-Fällen einzudämmen.
DREI-PHASEN-PLAN Edelstein drohte, keine Alternative vorzustellen, sollte die Regierung seinen Drei-Phasen-Plan ablehnen, und er wollte auch keine Diskussion darüber zulassen. Er habe versucht, mit den Geschäften zusammenzuarbeiten, um die Wirtschaft offen zu halten. Aber die Durchsetzung der Corona-Regeln sei nicht »aggressiv, effektiv und unversöhnlich« gewesen, so wie es nötig gewesen wäre. »Deshalb gibt es keine andere Wahl, als einen Lockdown zu verhängen. Dies ist ein schwerer Tag für das Land«, wird er in israelischen Medien zitiert. »Doch es geht hier um Leben und Tod.«
Der ultraorthodoxe Haus- und Bauminister Yakov Litzman (Vereinigtes Tora-Judentum) war am Sonntag wegen des drohenden Lockdown sogar zurückgetreten. Litzman beklagt, dass ein »Lockdown Hunderttausende von Juden davon abhalten wird, in Synagogen zu beten«. Er habe seinen Schritt allerdings nicht mit der Partei abgestimmt, heißt es aus Kreisen des Vereinigten Tora-Judentums. Auch während der Restriktionen sollen Gottesdienste – allerdings in begrenzter Form – erlaubt sein. Details hierzu sind noch nicht veröffentlicht worden.
Viele Menschen kritisieren, dass der ursprüngliche Vorschlag des Coronavirus-Beauftragten Ronni Gamzu letztendlich doch nicht implementiert wurde, obwohl er von der Regierung akzeptiert worden war. Der »Ampel-Plan« hatte vorgesehen, in Orten mit hoher Infektionsrate einen teilweisen Lockdown durchzusetzen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um arabische und ultraorthodoxe Gemeinden. Vor allem charedische Gemeinden widersetzten sich dem mit dem Argument, dass sie »diskriminiert« würden.
Zwar sei das Personal völlig überarbeitet, eine Auslastung der Hospitäler indes gebe es nicht, erklären mehrere Krankenhauschefs.
Mehrere Krankenhausdirektoren waren bei der Sitzung am Donnerstag anwesend und hatten angemerkt, sie hielten eine weitere komplette Abriegelung über die Hohen Feiertage nicht für notwendig. Zwar sei das Krankenhauspersonal völlig überarbeitet, eine Auslastung der Hospitäler indes gebe es nicht.
KAPAZITÄTEN Der Chef des Beilinson-Krankenhauses in Petach Tikwa, Eitan Wertheim, führte aus, dass sich der Trend seit Mitte August durchaus geändert habe, »aber wir befinden uns nicht am Rande eines Zusammenbruchs der Krankenhäuser«. Das Coronavirus Kommando- und Kontrollzentrum der Armee dagegen ist der Auffassung, dass sich die Hospitäler sehr wohl ihrer maximalen Kapazität näherten.
Am vergangenen Freitag wurden nahezu 4000 Neuinfektionen gemeldet, die Zahl der schweren Fälle liegt bei 500. Bislang sind in Israel 1103 Menschen an den Folgen von Covid-19 gestorben.
SICHERHEITSNETZ Das Finanzministerium will in Zusammenarbeit mit dem Büro des Premiers und dem Leiter des nationalen Wirtschaftsrates ein »Sicherheitsnetz« für Geschäftsinhaber erlassen, die durch den Lockdown noch weiter geschädigt werden.
Für viele Israelis kommen zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch immer größere emotionale Probleme dazu. Während der Hohen Feiertage, an denen traditionell die israelischen Großfamilien zusammenkommen, gemeinsam feiern, essen, singen und beten, werden in diesem Jahr viele Menschen einsam sein – und den Beginn von 5781 allein verbringen.