Geiselabkommen

Am Schabbat zurück ins Leben

Es war ein Schabbat, an dem sie auf brutalste Weise aus ihrem bisherigen Leben gerissen wurden. Terroristen der Hamas überfielen und verschleppten die jungen Späherinnen der israelischen Armee (IDF) Daniella Gilboa, Naama Levy, Liri Albag, Karina Ariev und Agam Berger aus ihrer Kaserne in Nahal Oz in den Gazastreifen, während der Süden des Landes mit Massakern überzogen wurde. Am vergangenen Schabbat kamen vier von ihnen im Rahmen der ersten Phase des derzeitigen Waffenstillstands- und Geiselabkommens frei.

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Die Aufnahmen ihrer Entführung gingen um die Welt. Das Video von Naama Levy etwa, wie sie in Gaza barfuß und in Jogginghose von Terroristen an den Haaren aus einem Jeep gezerrt wird. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, zwischen den Beinen ein großer Blutfleck. Die unerträgliche Szene steht für den Horror, den die Geiseln in der Hamas-Gefangenschaft ertragen mussten. Dann ein weiteres Video. Darin versucht die 19-Jährige verzweifelt, ihre Entführer zur Vernunft zu bringen. »Ich habe Freunde in Palästina …«, sagt sie.

Jetzt ist Naama frei. Überwältigt von Glücksgefühlen schaut ihre Mutter Ayelet Levy-Shahar ihrer Tochter in die Augen, als sie sie nach 477 Tagen zum ersten Mal in die Arme nimmt. Zärtlich streicht sie ihr über die Wange. Die Eltern der vier jungen Israelinnen haben seit dem Morgen in einer Militäreinrichtung an der Grenze zum Gazastreifen auf die Freilassung ihrer Töchter gewartet. Als die ersten Bilder der jungen Frauen, live aus Gaza von Al-Dschasira ausgestrahlt, über die Bildschirme laufen, beginnen sie zu jubeln.

Drohkulisse und Inszenierung mit Fahnen und Propagandapostern

Etwa eine Stunde zuvor standen Naama, Daniella und Karina, alle 20, und die 19-jährige Liri auf einer Hamas-Bühne in Gaza-Stadt – verkleidet in uniformartige Anzüge und umringt von Dutzenden maskierten Hamas-Männern mit Sturmgewehren. In dieser Inszenierung mit Fahnen und Propagandapostern sollten die jungen Israelinnen vorgeführt werden, stahlen der Hamas jedoch die Show mit ihrem Mut und ihrer Haltung. Sie winkten, reckten die Daumen in die Höhe und lächelten strahlend ins feindlich gesinnte Publikum.

Erst nach ihrer Freilassung wurde bekannt, dass man sich besonders um Daniella gesorgt habe, die am 7. Oktober angeschossen wurde, und es nicht klar war, in welchem Gesundheitszustand sie war. Doch auch sie ging aufrecht die Stufen zur Bühne hinauf und wieder herunter. Wie nun bekannt wurde, steckt die Kugel noch immer in ihrem Bein und muss operativ entfernt werden.

Liri ist die Jüngste in der Gruppe und wurde zu deren Anführerin. Während der Geiselhaft kommunizierte sie mit den Terroristen. Auf Arabisch, das sie mittlerweile alle fließend sprechen, wie unter anderem ein Propagandavideo zeigt, das die Terrororganisation kurz vor der Freilassung der vier veröffentlichte.

»Ich liebe das ganze Volk Israel und alle Soldaten, die alles getan haben, damit wir freikommen.«

Liri Albag

Als die jungen Frauen mit dem Helikopter ins Krankenhaus geflogen werden, formt Liri kurz vor Start am Fenster ein Herz mit ihren Händen. »Ich liebe das ganze Volk Israel und alle Soldaten, die alles getan haben, damit wir freikommen. Vielen Dank euch allen«, sagte sie vor dem Einstieg. Anschließend schrieben alle Eltern Erklärungen, in denen sie betonten, dass sie »unendlich glücklich sind, unsere Töchter wieder in die Arme schließen zu können«, doch in Gedanken bei den Angehörigen von Agam Berger und Arbel Yehoud seien. Und sie machen klar, dass »wir nicht aufhören zu kämpfen, bis alle Geiseln zu Hause sind«.

Agam ist die fünfte Soldatin, die aus Nahal Oz entführt wurde. Ihr Großvater Aharon Berger steht an diesem Tag auf dem Platz der Geiseln. Er ist oft hier, in der Hand immer ein Poster seiner Enkelin. Er sei glücklich, doch er lächelt nicht. »Ich empfinde Freude, dass die vier in Freiheit sind, aber auch Trauer. Es ist ein schwerer Tag.« Die ganze Familie hoffe, dass Agam bei der nächsten Befreiungsaktion tatsächlich zurückkommen werde, sagte er. »Ich bin optimistisch«, fügte er hinzu, als wolle er sich selbst Mut machen. »Denn Agam ist ein starkes Mädchen.«

Ihre freigekommenen Kameradinnen und Freundinnen berichten, dass sie im Gazastreifen mit Agam zusammen waren, dass sie am Leben sei. Und auch Agam selbst sandte ein Zeichen an ihre Familie und alle Menschen, die darauf warten, dass sie endlich zurückkommt: Wie schon beim vorigen Geiseldeal flocht sie den jungen Frauen, mit denen sie zusammen war, kurz vor deren Entlassung die Haare. Ein Gruß an die Freiheit.

Optimismus trotz einjähriger Realität im Horrorszenario

»Obwohl uns die ersten Bilder von ihnen definitiv optimistisch stimmen«, gibt der Psychiater Gil Salzman vom Krankenhaus Beilinson, wo die jungen Frauen behandelt werden, zu bedenken, dass die Realität der Geiseln mehr als ein Jahr lang das reinste Horrorszenario gewesen sei und sie am 7. Oktober 2023 ein großes Trauma durchlebt haben.
Die Kinderärztin Ofrat Baruch-Harlev erklärt: »Sie sind zwar offiziell keine Kinder mehr, aber doch noch fast Kinder.« Besonders wichtig sei nun, dass sie sich aufgehoben, sicher und wie zu Hause fühlen, auch im Krankenhaus.

Sie bestätigt, dass die Sorge gewesen sei, dass die jungen Frauen in einem wesentlich schlechteren Gesundheitszustand zurückkommen würden. »Wir sind erleichtert, und jetzt können sie erst einmal nur in Liebe gebadet werden.« Die Mediziner hätten aus den vorherigen Geiselbefreiungen gelernt, dass dies der richtige Weg sei. »Vielleicht haben sie mehr oder weniger das Gleiche erlebt, dennoch sind sie verschiedene Menschen und reagieren anders auf Traumata«, führt sie weiter aus. »Daher müssen wir bei der Behandlung ganz individuell auf jede Einzelne von ihnen eingehen.«

Während zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte nicht bekannt gemacht wird, wer welches Trauma durchlebt hat, gaben die Eltern an, dass einige der Frauen Monate am Stück in unterirdischen Tunneln gefangen gehalten worden seien. Dabei hatten sie so gut wie keinen Kontakt zu anderen Menschen. Außerdem würden sie unter anderem unter den Folgen nicht versorgter alter Verletzungen leiden. Sie seien wie Sklaven von den Terroristen gehalten worden, hätten putzen und kochen müssen, ohne selbst von den Speisen essen zu dürfen. Stattdessen hätten sie oft nur zwei Pitabrote am Tag erhalten.

Zwei Pitabrote am Tag

In den Tagen vor ihrer Freilassung seien die Bedingungen etwas besser geworden, hätten die jungen Frauen berichtet. Es habe mehr Essen gegeben, sie durften duschen und ihre Kleidung wechseln. Eines machen die Mediziner, die die ehemaligen Geiseln behandeln, immer wieder klar: »Allen, die aus der Geiselhaft freikommen, steht ein langer und schwerer Weg der Rehabilitation bevor.«

Am Samstagnachmittag waren in Petach Tikwa, der Heimatstadt von Daniella Gilboa, spontan Angehörige und Freunde zusammengekommen. Ihre Tante Dikla Gilboa kann es nicht erwarten, sie »endlich zu sehen und zu umarmen«, aber »alle anderen 90 Geiseln müssen ebenfalls freikommen«. Es gebe keine andere Option, denn erst dann beginne die Heilung. »Als Gesellschaft und als Nation können wir es nicht anders verkraften.«

Sie waren entschlossen, ihren Geiselnehmern zu zeigen, dass sie stärker sind als je zuvor.

Ein paar Autominuten entfernt sitzen zur selben Zeit fünf Mädchen auf dem Sofa und schauen die Bilder aus Gaza an. »Sie braucht dringend Gel«, rufen sie, lachen laut und fallen sich in die Arme. Es sind die besten Freundinnen von Daniella Gilboa, die sie »Dana« nennen. »Aus ihrem Kuku schauen ja Schwonzim raus …« Es ist eine Obsession junger Frauen und Mädchen in Israel. Der Kuku, hebräisch für Pferdeschwanz, muss absolut perfekt sein. Keine einzelnen Haare, die unbeliebten »Schwonzim«, dürfen abstehen und das Gesamtbild stören.

Minuten zuvor haben Daniella, Liri, Naama und Karina mitten in Gaza-Stadt auf der Bühne der Hamas gestanden. Was die vier Israelinnen dabei gefühlt haben müssen, ist kaum vorzustellen. Vielleicht Todesangst, gemischt mit der unbändigen Vorfreude, schon bald in Freiheit zu sein. Daniella macht ein kleines Siegeszeichen mit ihren Fingern und kichert für einen Moment mit Karina, die neben ihr steht. Sie streicht über ihren geflochtenen Zopf. Auch Liri zupft an ihrem Pferdeschwanz. Es sind kleine Gesten der Normalität und Hoffnung.

Wenig später erzählten sie ihren Eltern, die darüber im öffentlich-rechtlichen Sender Kan sprechen, dass sie der Hamas keine Genugtuung verschaffen wollten, als sie vor der Freilassung in Gaza zur Schau gestellt wurden. »Sie waren entschlossen, ihren Geiselnehmern zu zeigen, dass die Torturen ihnen nichts anhaben können und dass sie stärker sind als je zuvor«, berichten die Angehörigen. Es war ein Schabbat, an dem Daniella, Naama, Liri und Karina ins Leben zurückkehrten.

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