Noch am Dienstag begann Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit Koalitionsgesprächen und gab sich siegessicher. Die Mehrheit in der Knesset hatte er da noch nicht zusammen, doch vor den Kameras hielt er die Daumen hoch. Mit 36 Mandaten war klar, dass er die dritten Wahlen innerhalb eines Jahres gewonnen hatte. Zwar nicht haushoch, aber doch. »Ich werde sofort eine starke nationale Regierung für Israel zusammenstellen«, sagte er kurz nach der Bekanntgabe der Ergebnisse.
Im Grunde hat sich bei der Mandatsverteilung im Vergleich zu den beiden vorherigen Wahlen im April und September 2019 nicht allzu viel geändert. Und doch könnte sich einiges ändern. Während der rechtsreligiöse Block seit mehr als einem Jahr in einer politischen Lähmung feststeckt und quasi arbeitsunfähig ist, könnte er – sollte er die 61 benötigten Sitze in der Knesset zusammenbekommen – die Macht wieder übernehmen. Bis jetzt hat er nur 58 Sitze.
Das Mitte-Bündnis Blau-Weiß erhält bei Redaktionsschluss 33 Sitze. Es scheint, als hätte der Vorsitzende Benny Gantz bereits seine Niederlage akzeptiert. In Tel Aviv sagte er am Dienstag vor Anhängern, dass er deren Schmerz und die Enttäuschung über den Wahlausgang teile. Dem Mitte-Linksblock werden zwischen 54 und 55 Sitze vorausgesagt. »Dies ist nicht der Weg, der Israel auf den rechten Pfad zurückbringt«, fügte Gantz noch hinzu.
VERNUNFT Blau-Weiß-Parteimitglied und Ex-Likud-Verteidigungsminister Mosche Yaalon meinte, »der Angeklagte Netanjahu« habe noch nicht die nötigen Zahlen für eine Regierung, und man müsse abwarten. Blau-Weiß sei gegründet worden, um die Vernunft und die Werte zurückzubringen, mit denen man aufgewachsen sei, so Yaalon. »Deshalb sind wir vereint und entschlossen, weiterzugehen, um dieses Ziel zu erreichen. Auch wenn der Weg lang ist.«
Mit 99 Prozent der ausgezählten Stimmen fehlten Netanjahu bei Redaktionsschluss noch drei Sitze zur Mehrheit. Die will der Likud, das gaben Vertreter der Partei offen zu, von Überläufern aus der Zentrumsunion Blau-Weiß bekommen. Einige von ihnen waren früher Parlamentarier für den Likud.
In einem Fall geht es nach dem Bericht der Tageszeitung »Haaretz« sogar um Erpressung: Der Abgeordneten Omer Yankelevich wurde angeblich vom Likud mitgeteilt, dass ihr, sollte sie nicht das Schiff der Partei von Benny Gantz verlassen, weitere Peinlichkeiten drohen. Kurz vor der Wahl waren Tonaufnahmen veröffentlicht worden, auf denen zu hören ist, wie Yankelevich über Gantz’ Fähigkeiten lästert. Sie bezeichnet ihn darin als »dumm« und einen »totalen Niemand, der kein Premierminister sein kann«. Angeblich soll es noch weitere Aufnahmen geben. Die Politikerin tweetete daraufhin: »Alles Gerüchte. Es wird nicht passieren.«
»Die Rechtswähler stimmen in Zahlen ab, die wir so noch nicht gesehen haben«, erklärte Dudi Chasid, zuständig für die Analysen beim Fernsehkanal 11. »In Orten wie Beer Sheva, Netiwot oder den jüdischen Siedlungen war es besonders deutlich.« Seiner Analyse zufolge hat das Linksbündnis aus Arbeitspartei, Gescher und Meretz an Blau-Weiß verloren und die wiederum an den Likud.
OPPOSITION Als weiterer Gewinner geht die Vereinte Arabische Liste aus dem Rennen. Sie motivierte ihre Wähler, gegen Netanjahu und den Friedensplan aus den USA zu stimmen. Derzeit werden ihr 15 Mandate vorausgesagt, zwei mehr als vor einigen Monaten. Sie ist die einzige Oppositionspartei, die Stimmen hinzugewann. Der Zusammenschluss von arabischen Parteien ist damit die drittgrößte Fraktion in der Knesset. Fraktionsvorsitzender Ahmad Tibi sagte, dass die Hochrechnungen zu gemischten Gefühlen bei den Parteimitgliedern geführt haben. »Die steigende arabische Beteiligung ist eine große Errungenschaft. Doch das Wachsen des Rechtsblocks zeigt an, dass harte Zeiten auf uns zukommen.«
Die Mehrheit erhofft der Likud von Überläufern von Blau-Weiß.
Die sefardische ultraorthodoxe Partei Schas erhält neun Mandate, das streng religiöse Vereinigte Tora-Judentum sieben. Ebenso viele kann das Linksbündnis aus Arbeitspartei, Gescher und Meretz verbuchen. Die Rechtspartei von Naftali Bennett, Jamina, kommt auf sechs Sitze.
Der seit Monaten als Königsmacher gehandelte Avigdor Lieberman holte mit seiner Israel-Beiteinu-Partei sieben Sitze. Dass er sich nach wie vor keiner Seite verpflichtet fühlt, betonte er: »Wir gehören zu keinem Block, wir gehören zum liberalen nationalen Rechtsflügel und werden im nationalen Interesse des Staates Israel handeln.« Lieberman will warten, bis die endgültigen Ergebnisse da sind, und dann »einen entscheidenden Sieg für eine Seite herbeiführen«.
RECHTSSTAAT Yohanan Plesner, der Präsident des Israelischen Demokratieinstituts (IDI), kommentierte noch vor den endgültigen Zahlen: »Während wir noch auf das Endergebnis warten müssen, gibt es keinen Zweifel, dass Premierminister Netanjahu ein bedeutendes politisches Mandat vom israelischen Volk erhalten hat. Die Israelis haben ihre Unterstützung für den Mann ausgesprochen, von dem sie denken, er bringt ihnen Sicherheit und Wohlstand.«
Zugleich bewege sich das Land auf eine Zeit der konstitutionellen Unsicherheit zu, führte Plesner aus, denn am 17. März beginnt der Prozess gegen Netanjahu, und Israel werde sich in einer unvorhergesehenen Situation finden, »wenn der Mann an der Spitze der Institutionen für Gesetz und Ordnung in den Kampf zieht, um seinen Namen vor Gericht reinzuwaschen«. Gegen Netanjahu liegen Anklagen in drei Fällen vor: wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue.
Eine Rechtsgrundlage oder einen juristischen Präzedenzfall für einen Ministerpräsidenten unter Anklage gibt es nicht, erläutert das Israelische Demokratieinstitut. »Es gibt kein Gesetz, das vorschreibt, dass ein angeklagter Premier zurücktreten muss, bevor alle Verfahren beendet sind.« Jedoch dürfe sich die Öffentlichkeit fragen, ob es vernünftig ist, dass der Premier unter diesen Umständen im Amt bleibt.
Immunität Auch zu der von Netanjahu und seinen Verbündeten angestrebten Änderung des Gesetzes in Sachen Immunität für den Premier hat das IDI eine Meinung: »In Israel darf es keinen Platz für persönliche Rechtsprechung geben, die eine bestimmte Person vor einer Anklage schützt.« Dies wäre ein schwerwiegender Schaden für den Rechtsstaat.
Das amtliche Endergebnis wird voraussichtlich in rund einer Woche vorliegen. Präsident Reuven Rivlin hat danach eine Woche Zeit, zu entscheiden, wen er mit der Regierungsbildung beauftragt. Üblicherweise erhält den Auftrag der Vorsitzende der Fraktion mit den meisten Stimmen. Er hat dazu bis zu sechs Wochen Zeit. Mit der Bildung einer neuen Regierung wird daher frühestens im kommenden Monat gerechnet.
»Politik ist etwas Chaotisches«, resümierte am Wahlabend die einstige Vorsitzende der Arbeitspartei, Schelly Jachimowitsch. »Wir sehen an diesem Ergebnis, wie sehr die Einstellungen der Israelis auseinandergehen.«