Abu Tor hat eine traumhafte Lage. Von hier aus kann man einen Blick auf die goldene Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg genießen. Der Blick fällt auf die Scherover-Promenade, eine der großen grünen Lungen Ostjerusalems. Angesichts dieses Ausblicks ist es vielleicht kein Wunder, dass die Legende behauptet, irgendwo in diesem kleinen exklusiven Stadtteil südwestlich der Jerusalemer Altstadt habe sich einst der Hohepriester Hanania begraben lassen. Eine andere besagt, 1.000 Jahre später habe es ihm Ahmad al Kudsi, ein Weggefährte Saladins, nachgemacht, und den Hügel zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt.
Stacheldraht Nur wenige Autominuten vom Zentrum entfernt ist die Atmosphäre zwischen den engen Gassen mit den arabischen Villen in vielen Teilen rustikal. Kaum etwas erinnert heute noch daran, dass sich vor 43 Jahren ein tödlicher Grenzstreifen mitten durch das Stadtviertel zog. Stacheldraht, Scharfschützen und Betonwände trennten zwischen dem hoch gelegenen israelischen Teil im Westen und dem tiefer gelegenen, von Jordanien besetzten Ostteil. Die Grenze zog sich mitten durch Abu Tor. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 wurde der Stadtteil, wie der Rest Jerusalems, nach 20 Jahren Trennung wieder unter israelischer Herrschaft vereint. Da, wo einst Niemandsland war, steigt heute eine Fußgängertreppe in eine baumbestandene Straße, in der Kinder sorglos spielen. Die Mauern und der Stacheldraht sind verschwunden, in den Köpfen der Stadtbewohner hat sich die Trennung jedoch erhalten. Bis heute bleibt Abu Tor, wie die meisten Stadtviertel Jerusalems, entlang einer unsichtbaren Linie säuberlich in einen arabischen und einen jüdischen Teil getrennt.
Die Unterschiede sind greifbar. Wer in den jüdischen Teil kommt, wird von breiten, sauberen, baumbestandenen Straßen empfangen. Nur wenige Hundert Meter weiter, östlich jener Treppe, die einst die Grenze markierte, herrscht eine andere Welt. Wind wirbelt Müll durch die Straßen. Hier hat kein Haus seine eigene Mülltonne. Stattdessen stehen am Straßenrand, wo Parkplätze bitterlich fehlen, grüne Müllcontainer, in die die Bewohner ihren Abfall von Weitem werfen. Oftmals verfehlen sie dabei die stinkende, offenstehende Klappe des Containers, sehr zur Freude unzähliger Straßenkatzen, die die Tüten zerreißen und sich an dem herumfliegenden Unrat laben. Oben leuchtet die Neonschrift eines modernen Supermarkts, der rund um die Uhr geöffnet hat, unten wirbt ein verblichenes Plakat auf Arabisch für den lokalen Tante-Emma-Laden. Oben parken nagelneue Geländewagen, manche mit Diplomatenkennzeichen, vor Villen mit grünen Vorgärten. Unten rauschen aufgemotzte BMWs mit heruntergekurbelten Fenstern, durch die laute arabische Musik tönt, dicht an spielenden Kindern vorbei. Nur selten traut sich ein Jude nach »unten«. Oder ein Araber nach »oben«.
Staatsgewalt Das jüdische und das arabische Abu Tor könnten fast auf unterschiedlichen Planeten liegen. Die Kinder gehen in verschiedene Schulen, lernen nach einem eigenen Schulplan und sprechen verschiedene Sprachen. Ihre Eltern lesen verschiedene Zeitungen, die einen sehen israelische, die anderen arabische Fernsehkanäle, in denen sich die Realität des Nahen Ostens völlig anders darstellt. Während die Juden Polizisten als Vertreter der Staatsgewalt betrachten, die ihre Rechte und Sicherheit beschützen, sind dieselben Beamten aus arabischer Sicht Teil eines Mechanismus, der sie schikaniert und unterdrückt.
Trotzdem gibt es Berührungspunkte zwischen den parallelen Universen Abu Tors. Mitten zwischen den jüdischen Villen liegt ein Spielplatz, auf dem sich ungezwungen Kinder von »unten« und von »oben« tummeln. Beim Fußball überwinden Kinder und Jugendliche hier Ängste vor dem anderen. Nassim, ein 21 Jahre alter Kochlehrling, behauptet, hier Freundschaft mit einem israelischen Soldaten geschlossen zu haben. Nebenan sitzen jüdische neben arabischen Müttern am Spielplatz und tauschen Rezepte aus.
Kontaktaufnahme Jerusalem sei die einzige Stadt, in der man sich frei aussuchen könne, in welchem Jahrhundert man leben will, sagte einst der erste britische Militärgouverneur Ronald Storrs Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis heute ziehen die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der 750.000 Bewohner Jerusalems vor, sich gegenseitig zu ignorieren und in ihrer eigenen kleinen Welt zu leben, wenn sie nicht gerade darauf aus sind, sich zu provozieren. Ultra-orthodoxe Juden lassen in ihren Stadtvierteln die ausgelöschte Welt des jüdischen Osteuropa des 19. Jahrhunderts wiederauferstehen, in arabischen Vierteln fühlt man sich Amman näher als Tel Aviv, während man in säkularen Wohnbezirken vergessen will, dass man sich in Nahost befindet.
Zu Kontakt kommt es hauptsächlich in den Konfliktzonen, wenn jüdische Siedler wieder ein arabisches Haus übernehmen, wenn religiöse Juden ein unkoscheres Restaurant schließen oder eine Straße sperren lassen wollen, wenn Armenier sich mit griechisch-orthodoxen Mönchen oder Franziskanern um Vorrechte in der Grabeskirche prügeln. Militante Siedler bespucken Priester in der Altstadt, Muslime bewerfen jüdische Betende mit Steinen. Manchmal kommt es zu überraschender, wenn auch traurig stimmender, Eintracht, etwa wenn Patriarchen, Rabbiner und Muftis gemeinsam gegen ein Straßenfest der homosexuellen Gemeinde agieren.
Doch der Alltag ist komplexer als das Klischee der parallelen Universen einer Stadt, die drei sich einander feindlichen monotheistischen Religionen heilig ist. Das Leben in dieser mehr als 3.000 Jahre alten Stadt ist ein viel zu komplexes Phänomen, um es in nur wenige Worte zu fassen. Viel häufiger als das monatliche Gegeneinander ist ein Alltag des Nebeneinanders, in dem man sich gegenseitig ignoriert. Unbeachtet von der Presse, knospen in der umstrittenen Stadt des Friedens sogar manchmal die zarten Blüten eines kooperierenden Miteinanders. Wie auf dem Spielplatz von Abu Tor, wo arabische Verteidiger ihren jüdischen Torwart decken.