Omri Schifroni ist mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern zu Besuch im Kibbuz Beeri am Rande des Gazastreifens, als die Hölle losbricht. »Wir wachten am frühen Morgen vom Geräusch lauter Explosionen auf«, erinnert sich der 38-Jährige an das Massaker am 7. Oktober. »Es gab Raketenalarm und wir rannten in den Schutzraum.« Es sollte etwa zwölf Stunden in Angst und Schrecken dauern, bis sie gerettet werden und den Raum wieder verlassen können.
Einen Monat nach dem Massaker, einer tiefen Zäsur in der Geschichte der Region, sind noch nicht alle Opfer identifiziert. Was bisher bekannt ist: Nach Schätzungen kamen 3000 Terroristen der im Gazastreifen herrschenden Hamas sowie anderer extremistischer Gruppierungen in einem konzertierten Überraschungsangriff über die Grenze und ermordeten mehr als 1400 Menschen, die meisten davon Zivilisten. Mehr als 240 Menschen wurden nach Gaza entführt. Rund 1000 Terroristen wurden in stundenlangen Kämpfen getötet, etwa 1800 konnten zurück in den Gazastreifen entkommen und rund 200 wurden festgenommen.
Der Kibbuz Beeri ist eine der am schwersten getroffenen Ortschaften. Etwa zehn Prozent seiner rund 1200 Einwohner wurden getötet oder in den Gazastreifen verschleppt. »Vier Verwandte von mir wurden ermordet - ein Onkel, eine Tante und zwölfjährige Zwillinge - und viele Freunde und Bekannte aus dem Kibbuz«, erzählt Schifroni.
Schreckliche Stunden der Angst
Die Stunden im Versteck sind qualvoll. Sie sind vier Erwachsene und vier Kinder auf engem Raum. Sie verstecken die Kinder in einem Wandschrank. Gegen Mittag hört die Familie plötzlich, wie Terroristen in das Haus eindringen. »Sie schossen um sich, und zwei Kugeln durchschlugen die Tür des Schutzraumes«, erzählt Schifroni. Er hat die Klinke außen an der Tür abmontiert und hält diese von innen zu. Nach etwa einer Stunde gehen die Angreifer wieder. Später erfährt der 38-Jährige, dass sie in einem Haus zwei Reihen weiter 30 bis 40 Kibbuzmitglieder versammelt und ermordet haben.
Eine der Geiseln in dem anderen Haus, die überlebt hat, ist Jasmin Porat. Sie war mit ihrem Lebensgefährten von einem ebenfalls angegriffenen Musikfestival entkommen und versteckte sich in Beeri in einem Haus bei Fremden. Sie habe bereits Abschiedsmitteilungen an ihre drei Kinder geschrieben, erzählt sie dem israelischen Fernsehen. »Ich habe mich im Schrank versteckt, meine Großeltern sind Holocaust-Überlebende, ich habe mich wie während der Schoah gefühlt.«
Mit Sturmgewehren bewaffnete Terroristen hätten sie aus dem Schutzraum gezerrt. Während stundenlanger Verhandlungen diente sie ihnen als »Kontaktperson« mit der Polizei und konnte am Ende gerettet werden. Sehr viele andere haben weniger Glück.
Videoaufnahmen von grausamen Verbrechen
In den Wochen seit dem Massaker wurden immer mehr Videoaufnahmen und Bilder mit erschreckenden Inhalten veröffentlicht. Darunter sind viele Aufzeichnungen von Bodycams der Terroristen. Besonders Sanitäter berichteten von vielen unfassbar grausam verstümmelten Leichen, die sie in den Ortschaften entlang des Gazastreifens vorfanden. Darunter sind auch kleine Kinder.
Journalisten und Diplomaten wurde ein gut 40-minütiger Zusammenschnitt von Videoaufnahmen gezeigt, um das Ausmaß der Gräueltaten zu veranschaulichen. In Netiv Haasara mussten zwei Jungen etwa mit ansehen, wie ihr Vater erschossen wurde. Einer konnte auf einem Auge nicht mehr sehen, einer rief »Warum lebe ich?« und »Ich will zu Mama«. Währenddessen bediente sich einer der Terroristen im Kühlschrank und trank aus einer Flasche. Auf dem Musikfestival schoss ein Terrorist wahllos auf Toiletten, in denen sich Menschen versteckt hatten.
Sanitäter erzählten von Szenen höchster Grausamkeit. Von einer Schwangeren, der das Baby aus dem Leib geschnitten und dann erstochen wurde. Von einer Familie mit Kindern im Alter von sechs und acht Jahren, die beim Frühstück überfallen wurden. Dem Vater wurden die Augen ausgestochen, der Mutter eine Brust und Finger abgeschnitten.
Schicksal der Geiseln ungewiss
Festgenommene Hamas-Terroristen erzählten im Verhör, sie hätten den Auftrag gehabt, möglichst viele Menschen zu töten, auch Zivilisten. Außerdem sollten sie Geiseln nehmen. Mehr als 240 Menschen wurden in den Gazastreifen verschleppt und werden seitdem dort festgehalten. Ob bei den massiven israelischen Angriffen auch Geiseln getötet wurden und wie viele, ist unklar. Der bewaffnete Hamas-Arm behauptet, es seien mehr als 60 Geiseln getötet worden. Doch dabei könnte es sich auch um psychologische Kriegsführung handeln. Vier weibliche Geiseln wurden von der Hamas bisher freigelassen, eine Soldatin konnte von der Armee befreit werden.
Die Angehörigen der Geiseln, darunter auch viele Ausländer, kämpfen verzweifelt um ihre Freilassung und dass ihr Schicksal nicht in Vergessenheit gerät. Vor dem Militärhauptquartier gibt es ständig Proteste. Vor dem Nationaltheater stehen Betten als Symbol ihrer Abwesenheit. Auf dem Platz vor dem Kunstmuseum in Tel Aviv steht ein sehr langer Tisch, der für die Geiseln gedeckt ist. In der Nähe sind Protestzelte aufgebaut, in denen Familienmitglieder übernachten.
Einer davon ist Rubi Chen, Vater eines 19-jährigen entführten Soldaten. Beide sind auch amerikanische Staatsbürger. »Er war an der Grenze zum Gazastreifen positioniert, zur Verteidigung«, erklärt er. Weder das Rote Kreuz noch die Organisation Ärzte ohne Grenzen hätten die Geiseln im Gazastreifen bisher sehen können, kritisiert er. Auch von den Vereinten Nationen gebe es keine Hilfe. Seine Botschaft an die internationale Gemeinschaft und auch die israelische Regierung: »Die Rückführung aller Geiseln ist das wichtigste Thema von allen. Der Preis ist uns egal.«
Sympathie für Israel gesunken
Nach den Worten von Politik-Professor Jonathan Rynhold gab es nach dem Massaker in Ländern wie den USA, Großbritannien und Deutschland zunächst einen Anstieg der Sympathie für Israel. Unter dem Eindruck der massiven Gegenangriffe im Gazastreifen mit fast 10 000 Toten sei diese wieder gesunken. Die meisten Menschen in diesen Ländern hätten es zu ihren Lebzeiten nie mit radikalen Anführern und Ideologien zu tun gehabt, die massive Verluste innerhalb ihrer eigenen Bevölkerung in Kauf nähmen wie etwa die Hamas.
»Die Menschen sehen die Zerstörung in Gaza und tragische Vorfälle und denken, es sei leicht, diese zu verhindern«, sagt der Leiter der Abteilung für politische Studien an der Bar-Ilan-Universität nahe Tel Aviv. »Sie sehen nicht die Komplexität des Kampfes gegen einen Feind, der seine eigenen Zivilisten in Gefahr bringt und sich hinter ihnen versteckt.« Es gebe auch nicht den Blick auf den größeren Zusammenhang, »nämlich was es bedeuten würde für die Palästinenser in Gaza und die Israelis, wenn die Hamas an der Macht bleibt«.
Für Omri Schifroni ist der 7. Oktober rückblickend ein krasser Einschnitt in seinem Leben und in der Geschichte des Landes. »Es ist alles zerbrochen«, sagt er. Besonders schlimm sei die Enttäuschung über die Armee, die erst nach Stunden gekommen sei. Eine große Verantwortung sieht er auch bei der rechtsreligiösen Regierung von Benjamin Netanjahu, die mit ihrer umstrittenen Justizreform einen tiefen Spalt in die israelische Gesellschaft getrieben habe. Eine große Frage bleibt, wie Geheimdienst, Militär und politische Führung derart überrascht werden konnten.
Eine Rückkehr der Einwohner Beeris in den Kibbuz sieht er nur im Fall einer kompletten Zerstörung der Hamas als Möglichkeit. »Ich habe dieselbe Sympathie für ein Kind in Gaza wie für ein Kind in Sderot«, sagt Schifroni. Er lebt in dem Ort Givat Chaviva, der sich seit langem für Koexistenz zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt. »Aber die Hamas ist eine mörderische Organisation, wie (das Terrornetzwerk) Islamischer Staat, und sie muss zerstört werden.«