Der Oberste Gerichtshof in Jerusalem hat am Dienstagmorgen in einem beispiellosen vollständigen Gremium mit 15 Richterinnen und Richtern die erste Anhörung zur Justizreform der Regierung abgehalten.
KONTROLLE Im Juli war mit der Abschaffung des »Angemessenheitsstandards« der erste Teil der umstrittenen Justizreform in der Knesset verabschiedet worden. Durch den Wegfall dieses Standards aber wird die Kontrolle der Regierung und ihrer Beamten durch die Justiz erheblich eingeschränkt, da die Richter nicht eingreifen können, wenn willkürliche, extreme oder korrupte Entscheidungen getroffen werden.
Die Koalition von Premierminister Benjamin Netanjahu hatte im Januar unter Federführung von Justizminister Yariv Levin (Likud) die Justizkampagne begonnen, die landesweite und bis heute andauernde Proteste auslöste.
KORRUPTION Die Beschwerdeführer argumentieren, dass die Änderung wichtige demokratische Kontrollen der Regierung aushebelt, der Korruption Tür und Tor öffnet und Machtmissbrauch fördert. Sie meinen auch, dass der schnelle Gesetzgebungsprozess fehlerhaft gewesen sei.
Die Regierung indes beharrt darauf, dass es die Verfassungsregelung Israels dem Gericht verbiete, in Grundgesetze einzugreifen, und die Justizumwandlung die Demokratie nicht gefährde. Ihre Vertreter plädierten als erste vor dem Gremium.
»Es gibt Tausende unangemessene Entscheidungen von Ministern, die sich auf das tägliche Leben der Bürger auswirken.«
Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Hayut
Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Hayut, wies darauf hin, dass der sogenannte Angemessenheitsstandard, den die Koalition mit seinem neuen Gesetz abschaffen will, seit Jahrzehnten besteht. An den Anwalt der Regierung, Ilan Bombach, gewandt, sagte sie: »Es gibt Tausende unangemessene Entscheidungen von Ministern, die sich auf das tägliche Leben der Bürger auswirken. Meistens greifen wir nicht ein, doch manchmal gibt es einen Grund dafür. Aber heute hindert das Gesetz jedes Gericht im Land daran, diese Fälle überhaupt zu hören.«
MISSERFOLG »Diese Anhörung ist ein Misserfolg und leugnet den demokratischen Charakter Israels«, konterte einer der Initiatoren der Umwälzung des Justizsystems, der Vorsitzende des Rechtgebungskomitees der Knesset, Simcha Rothman, im Gerichtssaal.
Die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die sich wiederholt gegen die Schwächung des israelischen Rechtssystems ausgesprochen hat, lehnte es mit der Begründung, »dies ist ein Ausnahmefall unter Ausnahmefällen« ab, für die Regierung bei der Verteidigung des umstrittenen Gesetzes zu plädieren. Rechtsanwalt Aner Helman, der wiederum für die Generalstaatsanwältin argumentiert, warnte vor der Einschränkung der Justiz durch die Koalition. Helman resümierte: »Die Geschichte weiß, dass die Aussage, dass absolute Macht absolut korrumpiert, ein Axiom ist.«
VERFASSUNGSKRISE Die Richter könnten mit ihrem Urteil eine Verfassungskrise auslösen, wenn sie sich tatsächlich entscheiden, die Gesetzesänderung der Regierung niederzuschlagen
Wegen der Zuspitzung der politischen Lage im Land wurden den Richterinnen und Richtern spezielle Sicherheitsdetails zugewiesen. Bis zu einer endgültigen Entscheidung des Obersten Gerichtshofes könnten Wochen oder sogar Monate vergehen.