Die letzten Minuten sind nervenzermürbend. Das ganze Land sitzt angespannt vor den Bildschirmen, während Al-Dschasira» live aus Gaza berichtet. Es ist Samstagmorgen, 9.30 Uhr. Und alle warten darauf zu sehen, in welchem Zustand sich die drei Männer befinden, die dieses Mal freigelassen werden, nachdem die Geiseln der vergangenen Woche völlig ausgemergelt zurückgekommen sind. An diesem Tag sollen der 29-jährige Sasha Trupanov, der 36-jährige Sagui Dekel-Chen und der 46-jährige Iair Horn endlich zu ihren Familien zurückkehren dürfen.
Eine halbe Stunde später fahren die weißen Wagen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) auf den Platz in Khan Younis. Das Zeichen, dass die Geiselübergabe kurz bevorsteht. 20 Minuten darauf kommt ein Minivan mit einem Symbol der Hamas auf der Motorhaube angefahren. Darin die drei Geiseln, die die Terroristen am 7. Oktober 2023 aus dem Kibbuz Nir Oz verschleppt haben. Trupanov war in der Gewalt des palästinensischen Islamischen Dschihad, Horn und Dekel-Chen waren Gefangene der Hamas.
Dann die Erleichterung: Die Männer sehen vergleichsweise gesund aus und gehen eigenständig auf die Hamas-Bühne. Sie tragen keine Pseudouniformen, sondern Jogginganzüge. Vor Propagandaplakaten müssen sie in Mikrofone sprechen, sagen, wie gut es ihnen ergangen sei. Israelische Sender übertragen die Worte nicht. Später sieht man, dass Iair doch etwas unsicher läuft und wohl am Bein verletzt ist. Sagui kann seinen rechten Arm nicht richtig bewegen. Doch als sie von Vertretern des IKRK an die israelische Armee übergeben werden, ist zu sehen, wie die Anspannung von den Männern abfällt. Sagui lacht und scherzt beim Gespräch mit einer Soldatin, und auch auf Sashas Gesicht ist ein breites Lächeln zu sehen. «Heute sind unsere drei Geiseln Iair Horn, Sasha Trupanov und Sagui Dekel-Chen nach Hause gekommen. Wir heißen sie mit einer herzlichen Umarmung willkommen», heißt es kurz darauf aus dem Büro von Premier Benjamin Netanjahu. Alle drei Männer haben neben der israelischen weitere Staatsangehörigkeiten, Trupanov die russische, Dekel-Chen die US-amerikanische und Horn die argentinische.
Ohad Ben Ami
«Ich bin jemandem wichtig. Dieses Wissen hat uns am Leben gehalten.»
Als Trupanovs Mutter Lena und seine Freundin Sapir Cohen – auch sie waren Geiseln und kamen im November 2023 frei – ihren Sasha umarmen und weinen, sagt der immer wieder: «Ich bin okay, schaut doch, ich bin okay.» Der 29-Jährige erfuhr erst an diesem Samstag, dass sein Vater Vitaly von der Hamas am 7. Oktober ermordet worden war.
Der in Argentinien geborene Iair Horn ist eingefleischter Fußballfan. Schon Minuten nach seiner Freilassung hat er zwei Wünsche: das rot-weiße Trikot seines Lieblingsvereins Hapoel Beerschewa zu tragen und über das Stadion zu fliegen. Die Armee erfüllt ihm beide. Vor dem Eingang des Ichilov-Krankenhauses warten Freunde auf ihn. «Als wir gehört haben, dass er über das Stadion fliegen will, wussten wir, dass alles gut wird», sagt Luciana, die es kaum erwarten kann, ihn endlich wiederzusehen.
Doch es ist nicht alles «gut» für Iair und seine Familie. Denn sein Bruder Eitan wird noch immer in Gaza gefangen gehalten. Roni Milo, eine Freundin der Familie, sagt: «Wir freuen uns so sehr, dass Iair zu Hause ist. Wir können eine Sekunde durchatmen, doch dann geht es weiter mit unserem Kampf, damit alle zurückkommen.» Obwohl manche argumentieren, dass das Wohl des Staates über dem des Individuums stehe, «ist das Schicksal der einzelnen Geiseln auch das Schicksal des Staates», betont sie. «Ohne sie kann die israelische Gesellschaft nicht heilen.»
Er erfährt den Namen seines Kindes
Von all dem bekommt Avital Dekel-Chen nichts mit. Sie sieht nur noch ihren Mann, den sie «Prachtkerl» nennt. Einen Tag zuvor hatte sie in Channel 12 gesagt: «Es gibt nichts Romantischeres, als am Valentinstag zu hören, dass mein Liebster nach Hause kommt.» Sie war im siebten Monat schwanger, als die Hamas den Süden Israels überfiel, mehr als 1200 Menschen massakrierte und 251 verschleppte. Sie hatte sich mit ihren beiden Kindern im Schutzraum ihres Hauses versteckt. Sagui, der als Mitglied des Sicherheitsteams den Kibbuz verteidigte, wurde entführt.
Erst einen Tag vor seiner Freilassung erfuhr er, dass seine Familie lebt und dass er Vater eines weiteren Babys ist. Mit als Erstes sagt Avital ihm den Namen seiner Tochter, die er noch nie in den Armen halten konnte: Shachar Mazal. Mazal – Glück – so hatte Sagui sein ungeborenes Kind immer genannt.
Demonstration Am selben Abend stehen Tausende auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv, um für den Bestand des Waffenstillstands- und Geiselbefreiungsabkommens zwischen Israel und der Hamas zu demonstrieren. Hier wendet sich auch der vor sieben Tagen freigelassene Ohad Ben Ami per Videoschalte an die Menschen. Blass sieht der 56-Jährige aus und sehr dünn, doch auch entschlossen und kämpferisch. In einem Kapuzenpullover mit dem Aufdruck «Familienforum der Geiseln» sitzt er auf dem Sofa seiner neuen Wohnung. Sein Haus im Kibbuz Be’eri gibt es nicht mehr.
»Bitte bleibt stark«
Spätestens seit den jüngsten zwei Geiselbefreiungen weiß man, dass viele der Botschaften von Familien und Angehörigen sogar in den Tunneln unter dem Gazastreifen angekommen sind. Die Bedeutung dessen heben fast alle Zurückgekehrten hervor. So habe er gewusst, dass es «in unserem Land Menschen gibt, die sich um uns sorgen, die wollen, dass wir zurückkommen, die verstehen, dass es auch sie hätte treffen können», sagt Ben Ami. «Ich bin jemandem wichtig. Dieses Wissen hat uns am Leben gehalten.» In einem Appell fordert er seine Mitbürger auf, unbedingt weiter für die Freilassung der verbleibenden 73 Verschleppten zu demonstrieren. «Denn es gibt ihnen Kraft.» Dann wendet er sich direkt an die weiterhin in Gaza festgehaltenen Geiseln: «Ihr wisst, dass ich euch liebe. Ihr wisst, dass es mir schwerfiel zu gehen, während ihr bleiben müsst. Auch ihr werdet bald zu Hause sein. Bitte bleibt stark!»
Or Levy, der zusammen mit Ben Ami freigelassen wurde, steht selbst an diesem zentralen Ort des Kampfes. Levy, dessen Frau Einav auf dem Nova-Festival von der Hamas ermordet wurde, ist gegen den Rat seiner Ärzte und der Familie auf den Platz gekommen, um all jenen zu danken, die für ihn gekämpft haben, und um an die Geiseln zu erinnern, die noch «in der Hölle von Gaza» sind. Er sei zu schwach, sei er gewarnt worden, doch er habe gefühlt, dass er genau hierhin müsse. Und so steht er da, hohlwangig, in einer Winterjacke mit zwei Schildern in den Händen. Darauf zu sehen sind Fotos von Eliya Cohen und Alon Ohel. Zwei junge Israelis, mit denen er in den Terrortunneln der Hamas war. Und die seit 500 Tagen darauf warten, dass auch sie endlich nach Hause kommen können.