Der Begriff »Tinok schenischba« ist die Abkürzung eines Prinzips, das der Talmud als »Tinok schenischba bejn hanochrim« einführt. Es beschreibt einen Juden, der in seiner Kindheit (als Säugling – hebräisch: Tinok) von Nichtjuden entführt wurde und in einer nichtjüdischen Umgebung aufwuchs. Er hatte nicht die Möglichkeit, die Gebote der Tora kennenzulernen. Da er die Gebote wegen seiner Unwissenheit übertritt, kann er für seine Vergehen nicht verantwortlich gemacht werden. Seine Unwissenheit befreit ihn von der Verantwortung.
Der Talmud (Schawuot 5a) diskutiert einen Fall, in dem ein Mann das Gesetz eigentlich gekannt hat, es aber vergaß und es deshalb übertrat. Der Talmud stuft diese Übertretung als unwillentlich ein, da der Mann keine Warnung erhalten hatte und sich an das Gesetz nicht erinnern konnte. Genauso ist es, wenn jemand das Gesetz nie kennengelernt hat: Falls er es übertritt, wird dies als unwillentlich betrachtet.
Kinder Rambam (1135–1204) kritisiert in seinem halachischen Werk Mischne Tora (Hilchot Mamrim 3,1–3) diejenigen, die sich nur an die schriftliche Tora halten und den Gesetzen der mündlichen Lehre und unseren Weisen keine Achtung schenken. In sehr scharfer Sprache fordert er, sie zu bestrafen – allerdings nur diejenigen, die sich selbst dafür entscheiden, den Weg der mündlichen Tora zu verlassen. Ihre Kinder und Enkel, die durch die Vorfahren in die Irre geführt wurden, sollen straffrei bleiben, denn sie sind wie »Tinokim schenischba« – Kinder, die entführt wurden und in einer Umgebung ohne Tora aufwuchsen.
Das Konzept von Tinok schenischba spielt auch in der modernen halachischen Literatur eine Rolle. Unsere Weisen sagen, dass jemand, der öffentlich und willentlich den Schabbat entweiht, einem Götzendiener gleicht. Der Grund dafür ist, dass wir den Schabbat als ein Zeugnis dafür halten, dass G’tt in sechs Tagen die Welt erschaffen hat und am siebenten Tag ruhte.
Wenn also jemand mit dem ganzen Wissen und Bewusstsein den Schabbat öffentlich entweiht, bringt er damit zum Ausdruck, dass nicht G’tt, sondern jemand anderes die Welt erschuf. Er rebelliert damit gegen G’tt und die Tora und wird in der halachischen Literatur als ein Mumar bezeichnet, ein Jude, der das Gesetz, um zu provozieren, absichtlich übertritt, der also vom jüdischen Glauben abgefallen ist.
Bischul Akum Rambam schreibt in Hilchot Schabbat (30,15), dass ein Jude, der öffentlich den Schabbat entweiht, in Bezug auf alle Gebote einem Nichtjuden gleicht. Daraus würde resultieren, dass Speisen, die ein nichtpraktizierender Jude gekocht hat, unter das Verbot von Bischul Akum (von einem Nichtjuden gekochtes Essen) und ungekochter Wein, den ein nichtpraktizierender Jude eingeschenkt hat, unter das Verbot von Jain Nessech (von einem Nichtjuden eingegossenes Wein) fallen würden und zum Verzehr verboten wären. Wenn das die von allen angenommene praktizierte Halacha wäre, dann hätten die meisten Gemeinden in Deutschland und anderswo in der Diaspora heute ein großes Problem.
Jedoch schreiben viele Rabbiner, unter anderem Raw Mosche Feinstein, Raw Yisroel Belsky und Raw Herschel Schachter, dass es in der heutigen Zeit sehr schwer ist, einen echten Mumar zu finden. Die Mehrheit der nichtpraktizierenden Juden wird heute als Tinokim schenischba eingestuft. Denn der Grund, warum sie die Gebote nicht halten, ist nicht der Wille zur Rebellion gegen G’tt und Seine Tora, sondern ihre Unwissenheit: Sie sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, die auf die Ausführung der Gebote keinen Wert legte.