Glossar

Tikkun Leil Schawuot

Lernen bis zum frühen Morgen: Tikkun Leil Schawuot Foto: Thinkstock

Wer in einer lebendigen jüdischen Infrastruktur lebt oder bei Facebook angemeldet ist, hat dieser Tage möglicherweise eine Einladung zu einer Schawuot-Lernnacht erhalten. Häufig steht dort auch »Tikkun Leil Schawuot«. Man könnte »Tikkun« von dem hebräischen Verb »letaken« herleiten, was »reparieren« oder »wiederherstellen« bedeutet. Dieser Begriff bezieht sich sowohl auf die Nacht als auch auf die Textsammlung, die in der Nacht gelernt werden kann.

Oft steht auf diesen Einladungen bereits ein Thema, etwa »Judentum und Ökologie« oder »Judentum und Sexualität«. Die Organisatoren erstellen für diesen Anlass eine Textsammlung, die man dann gemeinsam studiert, bis es spät wird – oder Zeit ist für das Morgengebet.

verschlafen Eine beliebte Erklärung für diesen Brauch ist ein Verweis auf den Midrasch Schir HaSchirim Rabba (1,57). Demnach wollten die Israeliten nicht unausgeschlafen am Sinai erscheinen und gingen deshalb besonders zeitig schlafen. Offenbar ruhten sie aber so gut, dass sie verschliefen und Mosche sie wecken musste.

Die früheste Erwähnung des Brauchs finden wir im Sohar (Wajikra 23). Die Frommen würden in der Nacht wach bleiben und lernen, wie etwa Schimon bar Jochaj. Begründet wird dies damit, dass die Braut sich bereit mache, dem Bräutigam am Morgen zu begegnen. Darauf jedenfalls bezieht sich Rabbiner Avraham Gombiner (1637–1683) in »Magen Awraham«, seinem Kommentar zum Orach Chajim des Schulchan Aruch. Gombiner kennt den Brauch und schreibt, dass es zu seiner Zeit Gelehrte gab, die in der Nacht wach blieben und Tora lernten (Orach Chajim 494).

Kurze Zeit später schreibt der aus Prag stammende Rabbiner Jaakow Reischer (1661–1733) in seinem Schulchan-Aruch-Kommentar »Chok Jaakow«, der Brauch sei nicht nur unter Gelehrten üblich, sondern die ganze Bevölkerung pflege ihn.

Kabbalisten Rabbi Jisrael Meir Kagans (1838–1933) »Mischna Berura«, ebenfalls ein Kommentar zum Schulchan Aruch, bezieht sich auf den Arizal, Rabbiner Jitzchak Luria (1534–1572), einen der einflussreichsten Kabbalisten aus Safed, und behauptet, es sei besonders verdienstvoll, in dieser Nacht wach zu bleiben und Tora zu lernen. Das schütze den Lernenden in der Zeit bis zum kommenden Schawuot vor schlechten Einflüssen (Orach Chajim 494,1).

Es kann also mit Sicherheit angenommen werden, dass auch dieser Brauch, wie etwa Kabbalat Schabbat, auf die Kabbalisten von Safed zurückgeht und von dort aus seinen Weg in die jüdischen Gemeinden Europas fand. Das erklärt auch, warum eine Zusammenstellung (Tikkun) der zu lernenden Texte erst recht spät erschien und sich nicht wirklich durchgesetzt hat.

Texte Es gibt Sammlungen mit der Bezeichnung »Tikkun Leil Schawuot«, die vermutlich auf den Prager Rabbiner Jeschajahu Horowitz (1565–1630) zurückgehen. Sie enthalten Abschnitte aus Tanach und Talmud – eine Art Querschnitt aus den jüdischen Texten. Der bereits erwähnte Rabbiner Jaakow Reischer schreibt aber in seinem »Chok Jaakow« (494), er finde keinen Gefallen an diesen Sammlungen, sie seien »etwas für Menschen, die nicht zu lernen wissen«.

Offenbar gibt es also keine feste Textauswahl, sodass jede Gemeinde oder Gruppe selbst entscheiden kann, was genau sie lernen will.