An Schawuot feiern wir die Offenbarung am Berg Sinai – das Fest, an dem G’tt uns die Tora geschenkt hat. Der gesetzestreue Jude versteht unter »Offenbarung«, dass die Tora g’ttlich ist und nicht das Ergebnis einer menschlichen Anstrengung.
Auf den Wegen der Tora zu wandeln, bedeutet demnach für uns, den Willen G’ttes zu befolgen. Dies basiert auf dem Glauben an einen G’tt, der die Menschen in die Welt der Materie »hineinpflanzte«. Jedoch, Er gab uns die Fähigkeit, das Gute im Leben auf dieser Welt zu wählen. Nur dadurch können wir bestehen. Und dazu benötigen wir einen Wegweiser, die Tora.
Offenbarung Wir gehen davon aus, dass das Leben eines jeden Menschen einen konkreten Sinn hat: die Verwirklichung seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ein jeder Mensch besitzt die Fähigkeit, die verborgenen individuellen Werte seines Geistes vor der Vergänglichkeit zu bewahren. Die g’ttlichen Fürsorge versucht, dem Menschen dabei zu helfen. Die Offenbarung am Berg Sinai ist ein kollektives Erlebnis unseres Volkes. Sie führt uns zu einem Leben in G’ttesnähe – gegen jegliche Verführungen und gelegentlichen Gehässigkeiten der Außenwelt.
Es ist eine schöne Sitte, dass der erste Abend des Schawuotfestes dem gemeinsamen Torastudium gewidmet wird. Man gedenkt der Offenbarung und vertieft sich in die Worte G’ttes. Gewöhnlich pflegen wir uns beim Studium nicht ausschließlich auf biblische Werke zu beschränken. Wir behandeln gleichermaßen die Werke der nachbiblischen, rabbinischen Literatur, die mit der Tora unauflöslich verbunden sind.
lernen Für den Ursprung des Brauches, in der ersten Schawuotnacht wach zu bleiben und zu lernen, gibt es eine – vielleicht banal erscheinende – Erklärung: An einer Stelle der rabbinischen Literatur wird berichtet, dass unseren Vorfahren bereits drei Tage vor der Offenbarung mitgeteilt wurde, dass sie die Tora erhalten werden. Sie bereiteten sich darauf vor, doch verschliefen sie den entscheidenden Moment, und Mosche, der Lehrer Israels, musste alle wecken. Um diese Nachlässigkeit wiedergutzumachen, pflegt man in den meisten Gemeinden, die Nacht hindurch zu lernen.
Dieser Brauch geht zurück auf den Kabbalisten und Weisen Rav Jizhak Luria Aschkenasi, bekannt als Ari haKadosch, der im 16. Jahrhundert lebte. Das Büchlein, das zur Grundlage des ursprünglichen Studiums diente, heißt Tikkun Leil Schawuot (»Geistige Nachbesserung für die Schawuotnacht«).
Das hebräische Wort »Tikkun« bedeutet »Festigung«, »Nachbesserung« oder »Reparatur«. Unsere Weisen verstanden »Tikkun Olam« als eine wesentliche jüdische Aufgabe, zur Verbesserung des Zustands der Welt beizutragen.
Rabbi Jossef Abudarham, der im 13. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel lebte, meinte: Wenn es gelänge, die Unreinheit aus der Welt zu vertilgen, würde die Schechina, die Herrlichkeit G’ttes, zurückkehren, um die g’ttliche Ordnung in dieser Welt zu festigen.
Mystik Während des nächtlichen Lernens werden mystische Elemente mit den Grundsätzen der Tora und Mischna zusammengefügt. Wir wollen nicht behaupten, dass wir Juden eine mystische Gemeinschaft wären. Aber wir müssen einräumen, dass die Mystik eine Bestrebung nach einer seelischen Verbindung oder G’ttesnähe darstellt. Einer meiner Lehrer pflegte dies so zu ergänzen: Jüdische Mystik beginnt dort, wo der Gesetzeskodex Schulchan Aruch endet.
Gewiss handelten unsere Vorfahren, als sie das nächtliche Studium an Schawuot festlegten, im Sinne von Jehoschua 1,8: »Das Buch dieser Tora weiche nicht von deinem Mund, murmele es Tag und Nacht, damit du darauf achtest, so zu handeln ... Dann werden alle deine Wege ihr Ziel erreichen«.