Vor Kurzem hat in unseren Breitengraden wieder die Winterzeit begonnen. Nach dem jüdischen Kalender hat sie viel früher begonnen, mit Schemini Azeret nämlich, und sie dauert bis Erew Pessach. Bewusst wird uns dies jedes Mal, wenn wir die Amida sprechen; in die zweite Bracha ist für das Sommerhalbjahr eingefügt »Morid ha-tal« (»der den Tau fallen lässt«) oder für den Winter »Maschiv ha-ruach u-morid ha-gaschem« (»der den Wind wehen und den Regen fallen lässt«).
Freundlicherweise wird die Bracha für Wind und Regen mancherorts erst einige Wochen nach Schemini Azeret in die Amida eingefügt, eingedenk der Pilger, die nach Sukkot von Jerusalem aus auf dem Heimweg sind und denen der Regen auf ihrer Reise beschwerlich wäre. Das feierliche Gebet um Regen aber, Tefilat HaGeschem, sprechen wir im Mussafgebet an Schemini Azeret in der Synagoge, an dem Tag, an dem wir unsere Laubhütten verlassen. Bleibt der lebensspendende Regen aus, kommt es zur Hungersnot, das gilt für frühere Zeiten ebenso wie für die heute, gerade in Israel, wo man auf das Wasser so notwendig angewiesen ist.
SEGEN Und so, wie man im Kriat Schma den Jore und den Malkosch unterscheidet, den Frühregen und den Spätregen, so kennt das Gebet um Regen den heftigen Wolkenbruch und den sanften Landregen: Der eine kommt herunter wie der Zorn (Af) des Himmels, und der andere tränkt stetig und zuverlässig die Felder und dient dem Land zum Segen und zum gesunden Gedeihen (Bri). Darum trägt der Regenengel den Namen Af-Bri; er formt in der jüdischen Tradition die Wolken und öffnet deren Schleusen nach dem Geheiß des Ewigen.
Zu Beginn des Tefilat HaGeschem bitten wir daher den Ewigen, Er möge doch den Af-Bri anweisen, es regnen zu lassen. Und wir erinnern den Ewigen: Sachor! Gedenke unserer Stammväter – Awraham, von dem der Midrasch erzählt, er wollte sich lieber in einen Feuerofen werfen lassen, als sich vor Nimrods Götzen zu beugen, und den der Satan auf seinem Weg zur Akeda aufhalten wollte durch einen tiefen Wassergraben; Jizchak, der so gütig und wohltätig war wie das Wasser es für das Land ist; und Jakow, der mit seinem Stab den Jordan überquerte, der den schweren Stein vom Brunnen schob, um Lawans Schafe zu tränken, und der schließlich mit jenem geheimnisvollen g’ttlichen Wesen »aus Feuer und Wasser« rang, wie es uns der Talmud Jeruschalmi beschreibt.
Wasser Sachor, ein zweites Mal: Gedenke unserer Anführer zur Zeit des Auszugs aus Ägypten – Mosche, als Säugling aus dem Wasser gezogen, der für die Töchter des Jitro Wasser schöpfte, und der später die Kinder Israel durch das Schilfmeer führte, und weiter durch die Wüste, wo er auf das Wort des Ewigen hin Wasser aus dem Felsen hervorsprudeln ließ; und Aharon, erster Kohen HaGadol der Israeliten, der am Versöhnungstag fünf Mal im Wasser untertauchte zur rituellen Reinigung, um für das Volk den Opferdienst zu vollziehen, der zusammen mit Mosche die Kinder Israel durch die geteilten Wasser brachte, und der dabei war, als die bittere Quelle von Mara Süßwasser gab.
Und ein drittes Mal: Sachor – Gedenke all der Generationen Deines Volkes seither, deren Blut so oft vergossen wurde als Keduschat HaSchem, als wäre es Wasser.
Die Worte des Tefilat HaGeschem fließen, als wären sie selbst aus Wasser, und sie erinnern uns damit an das Ritual des Wasserausgießens, wie es einst im Tempel zu dieser Zeit die Priester taten. Sie binden den Beter ein in die lange Kette der Generationen des jüdischen Volkes und in die Geschicke unseres Landes Israel.
Gleichzeitig machen die Worte uns deutlich, wie unsere Gebete heute die einstigen Opfer ersetzen. Auch ohne den Tempel und seine Priester geht der G’ttesdienst weiter. Wir alle sind zu einem Volk von Priestern geworden, und gemeinsam beten wir zum Ewigen um Seine Gaben: Livracha velo liklala – zum Segen und nicht zum Unheil lasse Er sie uns zuteil werden.