Bevor wir in die Synagoge schauen, werfen wir einen kurzen Blick in die Moschee. Die Art, dort zu beten, dürfte den meisten Lesern bekannt sein. Der Beter sitzt auf dem Boden und neigt während bestimmter Texte sein Gesicht bis zum Boden. Dem Judentum war das nicht unbekannt. Während der Gebete am Jom Kippur gibt es tatsächlich Stellen, an denen einzelne Beter sich bis auf den Boden neigen.
Es gibt auch eine werktägliche Erinnerung daran: »Tachanun«. Es wird im Schacharit, also im Morgengebet, und im Mincha nach der Amida gesprochen. Das Tachanun ist eher eine Art privates Gebet, es wird individuell gesprochen. »Tachanun« bedeutet »Flehen«. Es enthält ein Bekenntnis der eigenen Sünden und ein Flehen um Erbarmen.
Mit Ausnahme von Montag und Donnerstag beginnt das Gebet stets mit dem stillen Aufsagen von Davids Worten, nachdem dieser von Gad zurechtgewiesen wurde, weil er das jüdische Volk gezählt hatte: »David sprach zu Gad: Ich habe Angst, möchten wir doch in die Hand HaSchems fallen, denn groß ist sein Erbarmen, aber in Menschenhand möchte ich nicht fallen« (2. Schmuel 24,14).
Boden Dieser Teil heißt »Nefilat Apajim – aufs Gesicht fallen«. Tatsächlich wurde dieses Gebet früher nicht wie heute sitzend mit dem Gesicht in der Armbeuge gesprochen, sondern man verbeugte sich vollständig und betete auf dem Boden – wie wir es heute nur noch aus Moscheen kennen.
Der Kern des Tachanun – einige Texte kamen später hinzu – geht wohl zurück bis in die Zeit des Talmuds und wird im Talmud auch erwähnt, allerdings nicht unter dem Namen »Tachanun«.
So wird etwa von Rav erzählt (Megilla 22a), der bei dem Gebet, bei dem die »gesamte Gemeinde auf ihr Gesicht fiel«, genau dies nicht tat. Denn es handelte sich um einen Steinfußboden (Megilla 22b), und das Niederfallen auf Steinböden ist außerhalb des Tempels nicht erlaubt.
Die Mischna berichtet, dass die Leviten nach dem Morgengebet im Tempel sangen (Mischna Tamid 7,3). Nach bestimmten Abschnitten warf sich das allgemeine Volk nieder. Im Tachanun, das heute wegen seines stillen Charakters eher wenig bekannt ist, begegnet uns also ein alter Bestandteil des täglichen Gebets und eine symbolische Erinnerung an das Niederfallen im Tempel. Aber nicht nur das.
geste Der Sitzhaltung, dass also der Arm in die Armbeuge gelegt wird, wird im Talmud (Baba Mezia 59a) nachgesagt, dass die Gebete, die in dieser Haltung gesprochen werden, von G’tt besonders angenommen werden. Was man aus dieser Aussage lernen kann, ist, dass diese Geste sehr alt ist.
Maimonides, der Rambam (1135–1204) hat in seiner Mischne Tora (Hilchot Tefilla 5,13) eine Liste von acht Elementen aufgezählt, die das Gebet ausmachen. Eines von ihnen ist »verbeugen«. Deshalb hat sich diese Geste wohl während des Tachanun überhaupt erhalten. Sie vervollständigt das Gebet. Rabbiner Josef Karo (1488–1575), der Verfasser des Schulchan Aruch, beschreibt dies auch (Orach Chajim 131,2), erklärt jedoch, dass man den Kopf nur auf den Arm legen soll, wenn eine Torarolle im Raum ist.
Erwähnt wurde bereits, dass das Tachanun am Montag und Donnerstag etwas länger ist. Diese beiden Tage waren zum einen Fastentage (Taanit 12a) und zum anderen Tage der Toralesung. Deshalb ist an diesen Tagen der Umfang des Tachanun-Gebets etwas größer als an anderen Tagen. Weil Tachanun eher Bußgebete enthält, wird es nicht an Tagen gesagt, die eher einen festlichen oder fröhlichen Charakter haben. Deshalb begegnet es uns auch nicht am Schabbat.