Sprechen wir mal nicht von den Inhalten der Gebete, sondern über den Ort, an dem sie gesprochen werden: Wer allein betet, kann dies nahezu überall tun, sogar draußen, wenn er unterwegs ist. Die Halacha berücksichtigt viele Konstellationen und gibt Hinweise darauf, wie man den idealen Ort fürs Beten finden kann. Wer beispielsweise kein festes Dach über dem Kopf hat, sollte sich unter einen Baum stellen.
Der Idealzustand ist jedoch das Gebet in einer Synagoge, gemeinsam mit einem Minjan. Überraschenderweise bedeutet dies aber nicht, dass die Synagoge die wichtigste Institution jüdischen Lebens in einer Gemeinde ist. Nein, keinesfalls. Weil das gelebte Judentum zu Hause und in der Familie an erster Stelle steht, hat auch der Bau einer Mikwe Vorrang vor dem Bau einer Synagoge. Um die Errichtung einer Mikwe bezahlen zu können, darf die Gemeinde sogar eine Synagoge oder eine Torarolle verkaufen.
Anlaufpunkt Aber auch wenn die Synagoge nicht die wichtigste Institution ist, wird doch bei genauer Betrachtung deutlich, dass sie der zentrale Anlaufpunkt der Beter sein sollte, der Ort, an dem man die gemeinsamen Gebete spricht, selbst wenn es dort überhaupt keinen Minjan gibt (Berachot 6a). Im Schulchan Aruch von Rabbiner Josef Karo (1488–1575) heißt es, die Bewohner einer Stadt sollten so schnell wie möglich eine Synagoge einrichten (Orach Chajim 150,1). Karo beschreibt ein bauliches Detail, auf das dabei zu achten ist: Die Synagoge sollte Fenster haben, die nach Jerusalem zeigen (90, 4-5).
Die besondere Bedeutung zeichnet den Raum aus und hebt ihn von anderen Einrichtungen einer Gemeinde ab. Bereits im Talmud ist die Einrichtung des Beit Haknesset (wörtlich: Haus der Versammlung) als Ort des gemeinsamen Gebets vollkommen klar und eingeführt. Allerdings könnte die hebräische Bezeichnung möglicherweise so verstanden werden, dass die Synagoge lediglich das Haus sei, in dem sich eine Gemeinde oder eine Gruppe von Menschen versammelt. Es soll aber vielmehr dem Gebet und dem Studium dienen.
Gebet Der Talmud warnt davor, die Synagoge »Beit Am« (Haus des Volkes) zu nennen (Schabbat 32a). Sie ist nicht irgendein – möglicherweise gar säkularer – Ort der Versammlung. Um dies besser zu verstehen, ist es vielleicht interessant, das Wort »Beit« mit Rabbiner Joseph Soloveitchik (1903–1993) als »Heim« zu übertragen. Die Synagoge ist für ihn nicht allein Haus des Gebets und der Versammlung, sondern Heim des Gebets und somit ein Heim für diejenigen aus der Gemeinde, die gemeinsam beten und lernen.
Rav Soloveitchik geht noch weiter und schreibt, ein Beit Am sei ein Haus für diejenigen, die jetzt leben. Das Beit Haknesset sei dagegen ein Heim für diejenigen, die vor uns lebten und nach uns kommen werden. Durch die Auseinandersetzung mit den Lehren und Texten des Judentums aus der Vergangenheit und deren Diskussion und Übermittlung in die Zukunft kämen hier alle Zeiten zusammen. Der Minjan in der Synagoge sei demnach die Versammlung des gesamten jüdischen Volkes.
Die Synagoge ist damit ein »Mikdasch me’at« (ein kleiner Tempel), wie im Talmud (Megilla 29a) die Synagogen und Lehrhäuser auch beschrieben werden. Gerade deshalb, sagt Rav Soloveitchik, lege die Halacha so viel Wert darauf, dass das gemeinsame Gebet in der Synagoge stattfindet und jeder nicht nur am Schabbat daran teilnehmen sollte.