Der Monat Siwan ist der dritte Monat im jüdischen Kalender. Nissan, Ijar und Siwan ergänzen sich und bilden eine Einheit. Wir lesen dazu im 2. Buch Mose 19,1: »Am Ersten des dritten Monats nach dem Auszug der Kinder Israels aus dem Land Ägypten kamen sie in die Wüste Sinai.« Aus dieser Torastelle lernen wir mit dem Talmud, dass es sich um Rosch Chodesch (Monatsbeginn) Siwan handelte, als die Kinder Israels in die Sinaiwüste kamen.
Was aber ist nun so besonders am dritten Monat? Im Nissan, dem Monat des Auszugs aus Ägypten, ist das Volk Israel gänzlich auf die Hilfe G’ttes angewiesen, es wurde vom Ewigen geleitet und agierte passiv. Ganz anders der Monat Ijar, in dem das Volk die Haltung findet, G’tt etwas zu geben. Der Siwan bildet einen Ausgleich zu den Vormonaten, er symbolisiert ein Geben und Nehmen. Diese Ausgewogenheit zeigt uns, dass es sich zuvor nicht um Gegensätzlichkeit gehandelt hat, sondern um eine Ergänzung. Und so ist das Sternzeichen im Monat Siwan der Zwilling, ein Symbol für zwei gegensätzliche Kräfte, die zusammen eine Einheit, ein Paar, bilden.
zwillinge Die Zwillinge stehen auch sinnbildlich für Mosche und Aharon. Beide hatten unterschiedliche Funktionen: Mosche war der Vermittler zwischen G’tt und Seinem Volk Israel; Aharon hingegen vermittelte zwischen den Menschen. Weitere Beispiele der Ergänzung sind die zwei Gesetzestafeln, aber auch die mündliche und die schriftliche Tora. All dies steht für Ergänzung und Vollkommenheit.
Das wichtigste Ereignis im Siwan ist der sechste Tag des Monats, das Schawuotfest, die Übergabe der Tora. Der Ausgleich und die Einigung kommen im folgenden Zitat zum Ausdruck. Im 2. Buch Mose 19,2 lesen wir: »Sie waren von Rephidim aufgebrochen, kamen in die Wüste Sinai und lagerten in der Wüste, und Israel lagerte dem Berg gegenüber.« »Israel lagerte«, ein ganzes Volk im Singular? Die Erklärung dazu gibt uns Raschi (1040–1105): Das Volk bildete eine Einheit und war in diesem Moment wie eine einzige Person. Das Verb verweist auf die Ausgeglichenheit des Volkes und darauf, dass es aufrichtig bereit war, die Tora zu empfangen.
regeln Das Lernen und Auslegen der Tora unterliegt bestimmten Regeln. Rabbi Jischmael, einer der großen Gelehrten aus der Zeit Bar Kochbas, der um das Jahr 135 n.d.Z. lebte, sagte, es gebe 13 Regeln für das Auslegen der Tora. Die 13. Regel besagt: »Wenn zwei Textstellen einander scheinbar widersprechen und dieser Widerspruch jedoch von einer dritten Textstelle ausgeglichen werden kann, so ist diese dritte Belegstelle als autoritativ anzusehen.«
Daraus lernen wir zweierlei: Der vorangegangene Widerspruch war nicht widersprüchlich, wenn eine dritte Textstelle den Widerspruch aufhebt. Außerdem bedarf das Lernen der Tora einer inneren Ausgeglichenheit zwischen Eigeninitiative, G’ttes Unterstützung und natürlich dem Mitwirken der Gesellschaft. Stures Lernen der Tora ist nicht sinnvoll. Widersprüche müssen aufgelöst werden – nur dann ist das Lernen der Tora in Harmonie möglich.