Schuhe sind im jüdischen Schrifttum mehr als eine Fußbekleidung gegen widrige Witterungsverhältnisse oder zum Schutz gegen Schmutz oder Verletzungen. Als der Bote des Herrn vor Mosche im brennenden Dornbusch am Berg Horeb erschien, sagte er: »Tritt nicht herzu. Zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliger Boden« (2. Buch Moses 3,5). Mosches Nachfolger Jehoschua erhielt vor der Eroberung Jerichos eine fast gleichlautende Botschaft: »… zieh deine Schuhe aus von den Füßen, denn die Stätte, darauf du stehst, ist heilig« (Jehoschua 5,15).
VERBOT Die rabbinische Literatur kommentiert, man solle nicht mit seinem Stock in der Hand und in Schuhen den Tempelberg betreten (Berachot 62b). Der Midrasch meint: An jedem Ort, wo sich die Schechina, die Herrlichkeit G’ttes, offenbart, ist es untersagt, Schuhe zu tragen (Schemot Rabba 2,6). Der spanisch-jüdische Kommentator Rabbi Schlomo ben Abraham Aderet, Raschba (1235–1310), verkündete aufgrund einer Talmudstelle: Man trete den priesterlichen Dienst im Heiligtum nicht mit Schuhen an (Jebamot 102b).
Andere Torakommentatoren, wie Rabbenu Bachaj im 13. Jahrhundert und der Kli Jakar, Rabbi Schlomo Ephraim ben Aharon Lundschitz im 16./17. Jahrhundert, neigten zu mystischen Erläuterungen: Sie bezeichneten Mosches und Jehoschuas Schuhausziehen als eine Art Entledigung ihres materiellen Daseins an einem heiligen Ort.
Schuhe zu tragen, war früher ein Zeichen von Komfort und Luxus. Dies galt besonders für Lederschuhe. So überliefert uns der Talmud die Weisung des berühmten Gelehrten Rabbi Akiwa an seinen Sohn: »Lass deine Füße nicht Schuhe entbehren« (Pessachim 112a). Raschis Enkel, Rabbi Schmuel ben Meir, der Raschbam (1085–1174), meinte, es sei eine Qual und eine Schande für einen Gelehrten, ohne Schuhe auftreten zu müssen.
Im Talmud (Schabbat 129a) lernen wir, dass, wer keine Schuhe hat, die Dachbalken seines Hauses verkaufen sollte, um mit dem Geld Schuhe zu erwerben. Diese Einstellung ist selbstverständlich eine »fromme Übertreibung«.
Mit Schuhen verbindet sich auch ein Gesetz der Tora, das heute nur wenige nachvollziehen können: die Chalitza. Dieses Gebot ist mit der Einrichtung des Levirats, der Schwagerehe, verbunden (5. Buch Moses 25, 5-9). Die Tora gebietet einer kinderlosen Witwe, den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heiraten, damit sie doch noch Nachwuchs bekommt, der eines Tages für sie sorgen kann.
ERNIEDRIGUNG Nach dem Torawort bestand für den Schwager die Möglichkeit, die ihm von der Tora auferlegte Verpflichtung zu verweigern und seine Schwägerin nicht zu heiraten. Nachdem die Verweigerung vom Schwager ausgesprochen wurde, trat die Schwägerin zu ihm hin und zog ihm vor Zeugen die Schuhe aus. In biblischer und talmudischer Zeit galt dieser Akt als öffentliche Erniedrigung und Beschämung des Schwagers, weil er seine Pflichten zum Erhalt der Großfamilie grob missachtete.
Jemandem auf diese Art öffentlich die Schuhe auszuziehen, kommt dem heutigen Offenbarungseid, der Insolvenz, gleich. Die Schuhe galten als Symbol der Besitz- und Erwerbsfähigkeit, denn im Altertum musste man Land und Immobilien, auch wenn man sie geerbt hatte, als Zeichen der Besitznahme, des Kaufes, mit den eigenen Schuhen betreten.
Im Buch Ruth lesen wir über das Ausziehen von Schuhen auch in einem anderen Zusammenhang: »Und es war von alters her eine solche Gewohnheit in Israel: Wenn einer ein Gut nicht beerben noch erkaufen wollte, auf dass eine Sache bestätigt würde, so zog er seinen Schuh aus und gab ihn dem andern. Das war das Zeugnis in Israel« (Ruth 4,7).
Heute ist das Ausziehen von Schuhen oder das Werfen damit aufgrund dieser alten Gepflogenheiten ein Zeichen tiefer Verachtung gegenüber Herrschenden.
Ein Symbol aus jüngerer Zeit sind die 60 bronzenen Schuhe am Holocaustmahnmal in Budapest. Sie erinnern an die wehrlosen Unschuldigen, die 1944/45 von ungarischen Faschisten am Donauufer erschossen wurden.