In jeder Generation versuchten viele, den verborgenen Kern des Judentums zu fassen. Sie warfen die Frage auf: Was macht das Wesen des Judentums aus? Die israelische Historikerin Fania Oz-Salzberger formuliert: »Das Judentum ist vor allem eine Zivilisation. Das heißt nicht nur Religion, obwohl die Religion wichtig ist – sondern auch Gesetz, Gericht, Literatur, Poesie, Vorstellungen von Gesellschaft und Gerechtigkeit, Philosophie, Erzählung, Mythos. All dies macht das antike Judentum und das moderne Judentum aus.« Dies ist unstrittig. Nur welches von diesen Bestandteilen bildet die Essenz dieser Zivilisation, und was ist nur Beiwerk?
Eindeutig ist nur, wer dazugehört. Die Halacha formuliert hier präzise: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum Judentum übergetreten ist. Die Selbstdefinition des Kindes einer jüdischen Mutter ist dabei aus halachischer Perspektive uninteressant. Es kann je nach Lebensphase vom Sozialisten zum Buddhisten oder zum Muslim werden, an seinem Judesein ändert dies nichts. Er kann die jüdische Gemeinschaft nicht verlassen und bleibt aus jüdischer Perspektive immer Teil des Volkes Israel.
Brit Mila Der Konvertit hingegen kann jeglicher Herkunft sein. Ihn macht ein freiwilliges Bekenntnis zum Juden. Er vollzieht zwei Schlüsselereignisse der jüdischen Geschichte an sich persönlich nach. Auf Awraham Awinu geht die Mizwa der Brit Mila zurück. Seit dem Stammvater Israels sollte jeder jüdische Junge beschnitten werden. Auch der Ger, der Konvertit, wird beschnitten und wird von nun an Ben Awraham, Sohn Awrahams, genannt. Vor dem Beit Din, dem Rabbinatsgericht, gelobt er, dass er die Gebote der Tora einzuhalten entschlossen ist. Dies wird als Kabbalat Ol HaMizwot bezeichnet, die Annahme des Joches der Gebote. Die Akzeptanz des Ol HaMizwot ermöglicht es dem Konvertiten, Teil des jüdischen Volkes zu werden. Die Gabe der Tora durch G’tt an Israel sowie die Annahme der Mizwot durch Israel am Berg Sinai gelten nun auch für ihn.
Der Religionsphilosoph Yeshayahu Leibowitz (1903–1994) sagte: »Die Essenz des Judentums besteht im Willen der Juden, das Ol HaMizwot zu schultern.« Im Falle des Konvertiten ist der Fall somit klar. Er hat eingewilligt, das Joch der Gebote zu empfangen, und ist aus freiem Willen Teil des jüdischen Volkes geworden. Die jüdische Geschichte wird nun auch von seiner Hand fortgeschrieben werden.
Religion Fania Oz-Salzberger beschreibt das Judentum als eine Zivilisation, in der die Religion eine bedeutende, aber keinesfalls die einzige Säule bildet. Für den Konvertiten dagegen stellt die Religion das Eingangsportal zum jüdischen Kosmos dar. Nur wer sich durch die Beschneidung physisch markiert, in der Mikwe untertaucht und das Joch der Gebote schultert, darf eintreten und Teil werden.
Wer als Jude geboren wurde, ist qua Existenz Teil dieser Zivilisation, wie dünn der verbindende Faden über die Generationen auch geworden sein mag. Er braucht sich nicht dazu entscheiden, Jude zu sein, da seine Vorfahren diese Wahl bereits für ihn trafen. Laut der Tradition war die Seele eines jeden Juden am Sinai anwesend und hat das Ol HaMizwot auf sich genommen. Die israelitischen Stämme akzeptierten dort mit der Tora einen Text, ohne den die Welt heute eine andere wäre. Die Tora fungierte als Initialzündung der jüdischen Zivilisation und durchdringt ihr Innerstes bis heute.
Ist die Akzeptanz des Ol HaMizwot nun die Essenz des Judentums, wie Leibowitz glaubt? Die Gebote waren über Jahrhunderte der Mörtel, der das Haus Israel zusammenhielt. Das Ol HaMizwot hinderte die Juden daran, sich den anderen Völkern anzunähern, und ließ sie überleben.
Um die 200 Jahre ist es her, dass Juden sich ihr Joch zu erleichtern suchten, und mancher warf es auch ab. Einige schufen Neues, Großes und anderes, doch auch in ihnen lassen sich die Spuren der Generationen finden, die das Ol HaMizwot von Ort zu Ort trugen.