Der Niggun ist eine Melodie, die oft als mystisch-musikalisches Gebet jenseits aller Worte beschrieben wird. Der Begründer des osteuropäischen Chassidismus, der Baal Schem Tow, und seine Anhänger waren davon überzeugt, dass G’tt aus einem Gefühl großer Freude verehrt werden sollte. Diese Freude mit Gesang und Tanz auszudrücken, gehört zur chassidischen Bewegung seit ihren Anfängen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Melodien Die Chassidim glauben, dass Melodien g’ttliche Funken in sich bergen können und dass sie, wie die menschlichen Seelen, g’ttlichen Ursprungs sind. Niggunim mit Texten werden als Seelen mit Körpern betrachtet, während solche ohne Texte als reine Seelen gelten. Deshalb komponierten die Chassidim viele Melodien ohne Text und sangen sie mit schlichten Wortsilben.
Die einfachste melodische Form ist ein Ausdruck der Freude. Ganz oben in der Hierarchie angesiedelt sind liturgische Gesänge, die die innere Bedeutung der Gebete zum Ausdruck bringen. Aber auf der höchsten Stufe der Niggunim stehen diejenigen, die von den Zaddikim und chassidischen Rebbes komponiert wurden – oder die man ihnen später zuschrieb. Man sah in diesen Melodien den Ausdruck mystisch-kabbalistischer Gedanken.
REbbes Einige chassidische Rebbes waren begabte Musiker und schufen immer wieder neue Niggunim. Allein oder zusammen mit ihren Anhängern komponierten sie Melodien für G’ttesdienste und für die unverwechselbaren chassidischen Zeremonien. Andere Rebbes zogen Komponisten an, die sich an ihrem Hof niederließen. Die einzelnen Niggunim der verschiedenen Chassidim bilden auch die Ouvertüre und den würdigen Einstieg in die Stimmung unserer Feiertage.
Mitte des 19. Jahrhunderts war es nicht selten, dass die chassidischen Meister eigene Chasanim (Kantoren) und Meschorerim (Chorsänger) an ihrem Hof hielten. Sie brachten denen, die an den Feiertagen an die Höfe der chassidischen Rebben strömten, die Melodien nahe.
So entwickelten sich an den Höfen unterschiedliche Melodien und Traditionen. Bis vor Kurzem galten alle Melodien als mündliche Überlieferung und wurden nicht niedergeschrieben. Aber seit einigen Jahrzehnten erlauben es einige chassidische Autoritäten, ihre Niggunim aufzuschreiben, um sie zu bewahren und zu verbreiten.
Frejlech Unter den vielen Genres der Niggunim unterscheidet man drei Hauptarten: Dweikus, in der Regel langsame, meditative Melodien, die üblicherweise von Einzelnen vorgetragen werden; Tans-(Tanz-)Niggunim, auch Tentsl oder Frejlechs genannt, die einfacher, schneller und rhythmischer sind. Sie werden während des Tanzes von einer Gruppe gesungen. Und dann gibt es noch Tisch-Niggunim. Sie sind langsamer und komplexer. Sie werden oft zu den Schabbat- oder Festmahlzeiten in Anwesenheit des Rebben – also bei »Tisch« – gesungen und bilden den Kern des chassidischen Repertoires.
Heute blüht die chassidische Musik wieder durch neue Melodien und Kompositionen der verschiedenen Höfe. Ihr Einfluss ist manchmal sogar in der liturgischen Musik der nicht-chassidischen Juden zu spüren. Darüber hinaus sind Nachahmungen der Niggunim unter Pop-Musikern verbreitet. Bei diversen Festivals chassidischer Musik werden regelmäßig neue Kompositionen aufgeführt, die von dort ihre Reise hinaus in die Welt antreten, auch wenn die meisten Nachahmungen sehr vereinfachte Versionen des ursprünglichen, echten Nigguns sind.
Unvergesslich bleiben vor allem die Niggunim der Wischnitzer Chassidim, die des Modschitzer Tischs und auch die der Belzer, Bobower und der Gerer. Diese Aufzählung ist aber bei Weitem nicht vollständig – und so mancher Anhänger schwört allein auf die Melodien seines Rebben.