Von Generation zu Generation (le-dor va-dor) geht die Kette der jüdischen Tradition, in der jeder von uns ein weiteres Glied ist, das die Kette fortsetzt und zusammenhält. Das bedeutet aber auch, dass alle, die vor uns waren, ebenfalls unverzichtbare Bestandteile dieser Kette sind, denn sie bricht ja nicht einfach hinter uns ab. Das Gedenken an alle diese Menschen begehen wir im Jiskor; das individuelle Andenken am jeweiligen Todestag für die einzelnen Mitglieder unserer eigenen Familie, insbesondere für Vater und Mutter, begehen wir mit der Nachala.
»Nachala« bedeutet Erbe, Vermächtnis und bezeichnet damit eine Pflicht, welche die Nachkommen auf sich nehmen. Umgangssprachlich sind stattdessen zwei andere Bezeichnungen geläufig, »Jahrzeit« im aschkenasischen Raum ein weit verbreitetes Wort, das einst aus dem Mittelhochdeutschen ins Jiddische Eingang gefunden hat; und der Ausdruck Meldado (seltener auch Anos, »Jahre«), ein Ladino-Wort, das neben »Nachala« im sefardischen Judentum in Gebrauch ist.
Jahrzeit Alle diese Wörter bezeichnen den Gedenktag, an dem sich nach dem jüdischen Kalender der Todestag eines nahen Verwandten jährt. Eine Ausnahme kann lediglich die erste Jahrzeit sein, wenn zwischen Tod und Begräbnis mehr als drei Tage lagen. In diesem Fall ist es üblich, die erste Jahrzeit am Tag der Beerdigung zu begehen, alle folgenden aber am eigentlichen Todestag.
Sicherlich ist die Verpflichtung der Nachala im Zusammenhang mit dem Gebot der Ehrung von Vater und Mutter zu sehen, das selbst nach deren Tod weiterbesteht. Es ist aber auch üblich, für Geschwister, Ehegatten, Kinder und weitere nahestehende Personen die Jahrzeit zu begehen. Um dieses Gedenken herum haben sich im Laufe der Zeit eine Reihe von Minhagim entwickelt. Einer der wichtigsten ist das Entzünden einer Jahrzeit- oder Seelenkerze. Dieser Brauch fußt auf dem Vers »Ein Licht des Ewigen ist des Menschen Seele« (Mischle 20,27), wobei Docht und Flamme bildlich für Körper und Seele des Menschen stehen.
Kerze Wenn heute aus Sicherheitsgründen statt der Kerze ein Glühlämpchen brennt, ist wohl die Idee, nicht aber das schöne symbolische Bild erhalten. Für jeden Verstorbenen wird ein Licht entzündet, jeweils am Vorabend des Jahrzeit-Tages, das 24 Stunden lang brennen soll. Es ist aber nicht notwendig, dass jeder Trauernde im Haushalt extra eine Kerze anzündet.
Das Gedenken an einen lieben Verstorbenen findet zum einen zu Hause statt, wenn möglich im Kreis der Familie; zum anderen soll derjenige, der für seine verstorbenen Verwandten Kaddisch sagt, das Ma’ariv-Gebet sowie das Schacharit-Gebet und das Mincha-Gebet zur Jahrzeit in der Synagoge besuchen, damit er mit dem Gemeinde-Minjan jeweils das Kaddisch auch laut beten kann. Zudem ist es üblich, Zedaka zu geben, Spenden für Bedürftige, im ehrenden Andenken an den Verstorbenen.
Friedhof Ein weiterer Brauch ist der Besuch des Friedhofs am Jahrestag. Falls dieser auf einen Schabbat oder Festtag fällt, besucht man das Grab einen Tag früher oder später. Manche Menschen fasten auch zur Jahrzeit vom Morgen bis zum Abend, eingedenk des traurigen Anlasses. Wer nicht fastet, sollte sich aber zumindest des Genusses von Wein und Fleischspeisen enthalten. Mancherorts ist es auch üblich, durch einen Sijum, den feierlichen Abschluss des Lernens eines Talmudtraktats, am Tag vor der Jahrzeit des Verstorbenen zu gedenken, wodurch das Fasten entfällt.
Es ehrt nicht nur den, dessen Jahrzeit man gedenkt, wenn man sich an diesem Tag mit Tora und Talmud beschäftigt und beispielsweise Mischna lernt. Es führt uns auch über unser eigenes Leid und unseren Verlust hinweg – genauso wie das Kaddisch, das ja keineswegs von Trauer, sondern von der Verherrlichung des Ewigen spricht, der Macht hat über Leben und Tod. Und so ist die Nachala nicht nur Ausdruck trauernden Gedenkens an diejenigen, welche die Olam Ha-Se vor uns verlassen haben, sondern schließt die Hoffnung auf Erlösung und ein Wiedersehen in der Olam Ha-Ba mit ein.