Und Esra öffnete das Buch vor den Augen des ganzen Volkes ... Und wie er es öffnete, stand alles Volk auf. Und Esra pries den Ewigen, den großen G’tt, und es rief alles Volk: Amen» (Nehemja 8, 5–6). So beginnt die älteste Beschreibung eines Minhags (Brauchs), der noch heute in Synagogen gepflegt wird: die Hagbaha. Allerdings bewahrte nur der Minhag der sefardischen Juden denselben Ablauf – da wird bis heute die Tora vor der Lesung gezeigt.
Brauch Der entsprechende aschkenasische Minhag hingegen erfuhr eine Änderung: Im Schulchan Aruch lernen wir aus der Glosse des Rema zu diesem Brauch, dass die Tora nun nach der Lesung zum Vorzeigen emporgehoben wurde. Eine Erklärung für diese Änderung liefert etwas später der Halachist Rabbi Chaim Benvenisti: Die aschkenasischen Juden maßen, vermutlich aus Unwissenheit, dem Sehen der Schrift größere Bedeutung bei als dem Hören – und verließen daher gleich nach der Hagbaha die Synagoge.
Erst durch die Änderung der Reihenfolge wurde sichergestellt, dass alle die Worte der Tora vernehmen konnten. An diesem Beispiel lässt sich erkennen, wie ein Minhag die Menschen tatsächlich «lenken» beziehungsweise «führen» kann – genau das ist im talmudischen Hebräisch die Bedeutung der zugrunde liegenden Wurzel Nun–He–Gimmel.
Minhagim stellen neben Mizwot d’Oraita (Geboten aus der Tora) und Mizwot d’Rabbanan den dritten Bereich der Halacha dar. Ein Minhag kann daher große halachische Autorität besitzen. Der Begriff Minhag wird aber auch in weiterem Sinn verwendet, um bestimmte Gepflogenheiten einer Gemeinde oder eines Einzelnen zu bezeichnen. So kann zum Beispiel in einer Synagoge der Minhag herrschen, für ein bestimmtes Gebet aufzustehen, während es in einer anderen Gemeinde Brauch ist, genau dieses Gebet im Sitzen zu sprechen.
Minhagim können darüber hinaus ausschlaggebend für ein Gesetz sein, wenn es keine definitive Entscheidung in einer Sache gibt. Der Jerusalemer Talmud schreibt: «Für jedes Gesetz, das im Beit Din unklar ist und über das man sich nicht einig ist, welches die vorzuziehende Lösung ist, geh und sieh, was die Gemeinde tut, und folge ihnen» (Pea 7,5).
Schon von Hillel ist diese Methode überliefert: Wenn er einmal ein Gesetz vergessen hatte, richtete er sich nach der gängigen Praxis der Juden – denn «wenn sie auch keine Propheten sind, so sind sie doch die Kinder von Propheten» (Pessachim 66a). Verloren gegangene gesetzliche Traditionen konnten so aufgrund von Beobachtung rekonstruiert werden.
Reisende Der ursprüngliche Minhag war Minhag haMakom, der Brauch des Ortes. Beispielhaft hierfür sind die Regeln für einen Reisenden: Kommt er in eine andere Gemeinde, hängt es von seiner Absicht ab, wie er sich dort verhalten soll. Hat er vor, dauerhaft an dem Ort zu bleiben, muss er die Halacha dort so praktizieren, wie es der Minhag dieser Gemeinde vorschreibt.
Sind die Menschen in der neuen Gemeinde strikter in der halachischen Praxis als in seiner alten Gemeinde, muss er nun ebenfalls strikter sein. Sind sie darin freizügiger, muss auch er es nun sein. Plant der Reisende jedoch, später wieder in seine eigene Gemeinde zurückzukehren, so soll er weiterhin seinen ursprünglichen Minhag befolgen – allerdings möglichst nur im Privaten, um kein Ärgernis zu erregen.
Die große Bedeutung von «Minhag» ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung. Stellte der Minhag in der talmudischen Zeit noch die unterste Stufe im halachischen System dar, bekam er ab der gaonäischen Zeit immer mehr Gewicht – bis es schließlich im zwölften Jahrhundert sogar «Minhag Jisrael Tora» hieß.
Vor allem unter aschkenasischen Juden gibt es die Tradition, Minhagim als unveränderlich zu verstehen und ihnen die Kraft eines Gesetzes zuzusprechen. Jedoch sind nicht alle Bräuche gleich hoch angesehen. Immer wieder wird dazu aufgerufen, sich von fehlerhaften Minhagim und unvernünftigen Bräuchen loszusagen. Aber auch heute entstehen immer wieder neue Bräuche.