Vor 200 Jahren standen auf einem Markt in Schlesien an einem Gemüsestand zwei Dienstmädchen und warteten. Das eine zog das andere ins Vertrauen: »Seit einem Monat ist mir morgens immer so schrecklich übel.« Die andere hörte kaum hin, wiederholte nur halblaut ihre Einkaufsliste, um nichts zu vergessen und damit den Zorn ihrer Herrin auf sich zu ziehen.
Genauestens zugehört hatte hingegen eine ältere Frau hinter ihnen, die Nachbarin der Familie des Dienstmädchens, das sich elend fühlte. Die Nachbarin hatte sich schon immer vom Leben benachteiligt gefühlt und neidete der Herrin des Mädchens ihren Ehemann und Gemüsegarten. Augenblicklich verließ sie den Stand, eilte zur Fischverkäuferin und flüsterte ihr zu: »Stell dir vor, die Magd meiner Nachbarin ist schwanger.«
Nach zehn Minuten wusste es der ganze Markt, nach 20 Minuten wurde über mögliche Väter diskutiert. Jeder, außer der Betroffenen, war informiert. Junge Burschen folgten ihr und belästigten sie. Alte Weiber spien vor ihr aus. Der Hausherr warf sie hinaus, da er seinen Sohn für den Vater hielt und einen Skandal vermeiden wollte.
Selbstmord Das Mädchen verließ den Ort in Schande. Auf der Brücke über dem trägen Fluss, der zur Stadt hinausführte, lehnte sie sich übers Geländer und schaute in die grünen Strudel des Wassers. Sie blickte noch einmal zum Himmel hinauf, dann schwang sie sich über das Geländer. War sie schwanger? Vielleicht. Möglicherweise war aber auch eine Krankheit Ursache ihrer Übelkeit.
Tod und Leben stehen in der Gewalt der Zunge, heißt es im Buch Mischle, den Sprüchen Salomos. In der jüdischen Tradition kommt dem Wort eine elementare Bedeutung zu: Es erschafft und vernichtet. Das Wort Gottes erschuf das Universum. Die Gabe der Sprache hat den Menschen dazu ermächtigt, die Welt zu dominieren. Sie erlaubt es ihm, grundlegende Muster aus seiner Erfahrungswelt auf eine abstrakte Ebene zu bringen und daraus allgemeine Regeln abzuleiten.
Die Macht der Sprache ist uns Juden von alters her bekannt, und die Tora warnt scharf vor ihrem Missbrauch: Geh nicht zu deinem Volk und verbreite Gerüchte! Die schlimmste Kategorie des Klatsches ist Laschon Hara, die üble Nachrede. Der Rambam, Maimonides (1138–1204), versteht unter Laschon Hara jede Aussage, die dem Betroffenen, wenn sie öffentlich wird, körperlich oder finanziell Schaden zufügt oder ihm Qualen und Angst bereitet.
Verbote Der bedeutende Gelehrte Rabbi Jisrael Meir Kagan verfasste Ende des 19. Jahrhunderts ein kompaktes Standardwerk zu Laschon Hara namens Chafetz Chaim. Kernaussagen daraus sind: Es ist verboten, schlecht über jemanden zu sprechen, selbst wenn die Aussagen korrekt sind. Man soll nichts, was man über jemanden gehört hat, weitererzählen. Man soll nicht anderen zuhören, die sich negativ über einen Dritten äußern. Hört man doch etwas, darf man es nicht glauben. Auch ist es verboten, Geschichten anonym zu erzählen, wenn es für den Hörer möglich ist, darauf zu kommen, von wem die Rede ist.
Was Laschon Hara zu einer schweren Sünde macht, ist ihre beträchtliche Halbwertszeit. Ob gewollt oder nicht, Klatsch bleibt lange haften. In einer jüdischen Volkserzählung heißt es: Ein Mann, der seine Mitmenschen verleumdet hatte und dies bereute, ging zum Rabbi. Er fragte: »Wie kann ich das wiedergutmachen?«
Der Rabbi nahm ein Daunenkissen, riss es auf und hielt es in den Wind. Die Federn zerstoben in alle Himmelsrichtungen, und der Rabbi fragte: »Wie kann man diese Daunen wieder einsammeln?« Im Talmud wird die Zunge als ein so gefährliches Instrument beschrieben, dass sie hinter zwei Mauern, den Lippen und den Zähnen, verborgen gehalten wird.