Kennen Sie noch die kleinen schwarzen Siddurim, die einfach fast alle Gebete enthielten und überall im deutschsprachigen Raum verwendet wurden? Wie den Siddur Sefat Emet, übersetzt von Rabbiner Selig Bamberger? In der Ausgabe in Originalgröße enthalten die Siddurim im hinteren Teil einen kleinen Schatz, der heute in Deutschland nur wenig Beachtung findet.
Im Siddur Sefat Emet heißt dieser Schatz »Jom Kippur Koton«, also »Jom Kippur Katan« – übersetzt der »kleine Jom Kippur«. Die Aufnahme in den Siddur ist Hinweis darauf, dass der Tag einst mehr Beachtung fand als heute. Der »kleine Jom Kippur« ist der Vortag von Rosch Chodesch, dem Monatsbeginn und Neumond.
Mondzyklus Ein Brauch, dessen Beachtung auch ein wenig dem Mondzyklus gleicht. Er verbreitet sich, wird weniger beachtet, dann wieder etwas mehr. Zuerst erschien er im 16. Jahrhundert. Rabbi Mosche Cordovero (1522–1570), der Ramak, erwähnt ihn als Erster als »Jom Kippur Katan«. Und da der Ramak in Safed starb, kann man annehmen, dass der Brauch aus dem Kreis der Kabbalisten dort stammte. Darum wird er wohl in Rabbiner Josef Karos Schulchan Aruch, der 1565 erschien, noch nicht erwähnt.
Als Rabbiner Jisrael Meir Kagan (1838–1933) sein Werk Mischna Berura (417,4) verfasste, schien der Brauch eine gewisse Verbreitung gefunden zu haben. Dort heißt es: »Einige sind es gewohnt, Jom Kippur Katan zu halten. (...) Der Maharam aus Cordovero nannte es Jom Kippur Katan, weil die Sünden des gesamten Monats gesühnt werden würden.«
Sühne Rabbiner Schlomo Ganzfried (1804–1886) schlägt im Kitzur Schulchan Aruch den Bogen zur Tora. Man faste, »weil an ihm alle Sünden des ganzen Monats gesühnt werden, ähnlich wie durch den Ziegenbock am Rosch Chodesch und wie wir im Mussafgebet sprechen: Eine Zeit der Sühne für alle ihre Generationen (97,1)«. Damit stellt er den Zusammenhang zum 4. Buch Mose 28,15 und dem Talmud her (Chullin 60b). Der erzählt, dass Rabbi Schimon Ben Lakisch an Rosch Chodesch ein »Sündopfer für den Herrn« darbrachte, weil es eine Sühne für G’tt sei. Nämlich dafür, den Mond kleiner geschaffen zu haben als die Sonne. Daraus würde folgen, dass an Rosch Chodesch Sühne für die Sünden Israels gewährt werde.
Die erste vollständige Zusammenstellung von Texten für diesen Tag erschien 1662 in Prag. Seitdem fasten einige – heute werden es wieder mehr – an diesem Tag. Immer am 29. Tag des jüdischen Monats, mit Ausnahme des 29. Nissan und des 29. Tischri. Auch während Chanukka darf nicht gefastet werden. Fällt Rosch Chodesch auf Schabbat oder den ersten Tag der Woche, dann wird Jom Kippur Katan am vorhergehenden Donnerstag begangen und die spezielle Ordnung der Gebete gelesen.
Symbolik Sie besteht zum größten Teil aus »Slichot«, Bußgebeten, teilweise aus den Gebeten des »großen« Jom Kippur entlehnt. Sie folgen dem Mincha-Gebet und werden heute wieder vermehrt in Siddurim mit aufgenommen. Oder man greift einfach auf eine ältere Ausgabe zurück und setzt sich mit der Symbolik des neuen Mondes auseinander, der als Bild dafür gesehen wird, dass Israel wieder erstehen kann, auch wenn es aussah, als würde es verschwinden.