»Mit Gerechtigkeit sollst du deinen Nächsten richten« (3. Buch Mose 19,15). Was bedeutet diese Anweisung der Tora? Sowohl Raschi (1040–1105) als auch Maimonides, der Rambam (1138–1204), erklären, dass das erwähnte Toragebot verschiedene Sachverhalte beinhaltet: Zum einen werden Richter angewiesen, die vor ihnen stehenden Parteien gleich zu behandeln. Zum anderen wird der Einzelne ermahnt, seinen Nächsten nach dessen günstiger Seite zu beurteilen.
Wie kam der Midrasch zu der zweiten Auslegung? Der Malbim, Rabbiner Meir Leibusch Wisser (1809–1879), meint: weil die Schrift von »deinem Nächsten« (Einzahl!) spricht und es bei gerichtlichen Auseinandersetzungen zwei Parteien gibt (vgl. 5. Buch Mose 1,16).
Zweifelsfall In der Mischna lesen wir: »Beurteile jeden Menschen zum Guten« (Sprüche der Väter 1,6). Damit ist gemeint, dass wir im Zweifelsfall positiv und nicht negativ über die Handlung eines Mitmenschen denken sollen.
Die zitierte Mischna spricht, wie Maimonides erklärt, von einem durchschnittlichen Menschen, dessen Verhalten mehrdeutig ist. Für das mehrdeutige Verhalten eines wohlbekannten Frevlers gilt die Regel der Mischna jedoch nicht. Wir dürfen dessen Handeln aufgrund seiner antireligiösen Einstellung negativ deuten. Bei einem frommen Gelehrten (Talmid Chacham) hingegen sind wir verpflichtet, uns große Mühe zu geben, sogar eine scheinbar negative Handlung anders zu interpretieren.
Vorsicht Bei der Beurteilung von Tun und Lassen des Nächsten sollte jeder äußerst vorsichtig sein, denn man kann sich sehr leicht irren. Im ersten Samuel-Buch lesen wir, dass sogar ein so hochstehender Mann wie der Priester Eli Channas Tun falsch einschätzte: »Und es geschah, als sie viel betete vor dem Ewigen, da beachtete Eli ihren Mund. Da nun Channa zu ihrem Herzen sprach, sich nur ihre Lippen bewegten, aber ihre Stimme nicht gehört wurde, hielt Eli sie für eine Betrunkene. Und er sprach zu ihr: ›Bis wann willst du wie eine Betrunkene tun? Lege ab deinen Weinrausch von dir.‹ Da antwortete Channa und sprach: ›Nicht so, mein Herr! Ein Weib schweren Gemütes bin ich, und Wein und Berauschendes habe ich nicht getrunken; und so schüttete ich aus meine Seele vor dem Ewigen. Setze nicht deine Magd einer Tochter der Ruchlosigkeit gleich; denn aus der Fülle meines Kummers und meiner Kränkung habe ich bisher geredet‹« (1, 12–16). Als Eli seinen Fehler bei der Beurteilung der Frau erkannte, segnete er Channa – das ist vorbildlich!
Im Babylonischen Talmud (Taanit 21b und 22a) wird die Geschichte erzählt, wie Abba der Bader einmal auf die Probe gestellt wurde. Beim Frömmigkeitstest, den er zu bestehen hatte, ging es um die gerechte Beurteilung von Mitmenschen. Zwei Jünger kamen zu Abba, um ihn zu prüfen. Er bewirtete sie, und nachts bereitete er ihnen ein Lager. Am folgenden Morgen nahmen sie die Matratzen und brachten sie auf den Markt zum Verkauf.
Matratzen Als sie Abba dort sahen, fragten sie ihn, was die Matratzen wert seien. Er erwiderte: Für so und so viel habe ich sie gekauft. Darauf sprachen die beiden Jünger: Es sind deine Matratzen, wir haben sie dir entwendet. Sag uns doch bitte, wessen du uns verdächtigt hast? Abba erwiderte: Ich dachte, die Rabbanan brauchten Lösegeld für Gefangene und wagten nicht, es von mir zu verlangen. Sie erwiderten: So nehme nun der Meister die Matratzen zurück. Er weigerte sich, da er sie bereits für wohltätige Zwecke preisgegeben hatte.
Aus dieser Geschichte darf man allerdings nicht den Schluss ziehen, dass man für einen guten Zweck stehlen darf – natürlich ist Diebstahl streng verboten! Der Erzählung können wir aber durchaus entnehmen, dass ein Frommer bereit war, das Verhalten von Tora-Jüngern umzudeuten, um diese nicht als undankbare Diebe beurteilen zu müssen.