Ist die Bibel richtig übersetzt?», fragt ein bekanntes Buch von Pinchas Lapide und weist damit auf das Dilemma eines jeden Übersetzers hin. Wie überträgt man ein Wort in eine andere Sprache, ohne dass dessen eigentliche Bedeutung verändert wird oder gar verloren geht? Manche Wörter haben keine direkte Entsprechung in der anderen Sprache, und damit unterliegt die Übertragung der Interpretation des Übersetzers. Oft ist die Bedeutung von Wörtern vielschichtig, und diese Vielschichtigkeit geht nicht selten durch die Übertragung verloren.
Nächstenliebe So ist es auch mit dem Wort Chesed. Frühe Übersetzungen haben es zu «Mitleid» gemacht (griechisch: Eleos, lateinisch: Misericordia) oder auch zu Fürsorge, Nächstenliebe (griechisch: Agape, lateinisch: Caritas). Aber Chesed geht weit darüber hinaus. Sie ist die absolute Liebe, die keine Bedingungen stellt, keine Gegenleistung erwartet; auch ist sie viel mehr als die Liebe zwischen Mann und Frau. Im zwischenmenschlichen Bereich ist Chesed ein g’ttliches Ideal, dem es nachzueifern gilt, indem man sich um Kranke und Verstorbene kümmert, gastfreundlich ist gegenüber Fremden, mittellose Bräute ausstattet, untereinander Frieden stiftet und vieles mehr.
«Von sechs Dingen genießt der Mensch die Früchte in dieser Welt, während ihm der Stamm für die jenseitige Welt erhalten bleibt, nämlich Gastfreundschaft, Krankenbesuch, Andacht beim Gebet, frühzeitiges Erscheinen im Lehrhaus, Erziehung der Kinder zum Studium der Tora und die Beurteilung des Nächsten zu dessen Gunsten», so lehrt uns der Talmud (Schabbat 127a). Und weiter: «Ehrerbietung gegen Vater und Mutter, Wohltätigkeit, Friedensstiftung zwischen einem Menschen und seinem Nächsten – das Studium der Tora aber wiegt sie alle auf: Talmud Tora ke-neged kulam.»
Chesed ist also etwas, was mit praktischen Taten verbunden ist, nicht nur mit freundlichen Gedanken. Chesed ist auch keine rein zwischenmenschliche Angelegenheit, sondern eine Sache zwischen den Menschen und dem Ewigen, worauf uns insbesondere die Nennung des Torastudiums hinweist. Wenn der Mensch die Tora eifrig studiert und recht versteht, dann wird er auch den Willen des Ewigen zum Guten erkennen und ihn in die Tat umsetzen, gegenüber dem Ewigen ebenso wie gegenüber dem Mitmenschen.
Ideal Die Chesed des Menschen bleibt letztlich ein Ideal. Und doch: Auch wenn menschliche Bemühungen das hohe Vorbild nicht erreichen können, und wären sie noch so ernsthaft, so tragen sie doch bei zum Tikkun Olam, der «Reparatur der Welt».
Absolut und vollkommen ist dagegen die Chesed des Ewigen. Sie gilt als eine Seiner grundlegenden Eigenschaften, und so benennt sie auch unser Gebet, vom Jigdal bis zum Birkat HaMason. Sie ist die absolute und uneingeschränkte Güte des Ewigen. Wenn Chesed im modernen Hebräisch als Synonyme Gunst, Gnade oder gar Gefälligkeit zugewiesen bekommt, ist dies weit von der Chesed im Sinn der Tora entfernt. Sehr viel näher kommen die jüdischen Mystiker der tiefen und vielschichtigen Bedeutung von Chesed. Im kabbalistischen Lebensbaum der zehn Sefirot steht Chesed, hier auch Gedola (Größe) genannt, genau in der Waagerechten der mittleren Ebene, gegenüber von Gevura (Macht, Stärke).
Das lehrt uns Menschen: Wahre Größe zeigt sich nicht in der Demonstration von Macht und Stärke, und Gevura ohne Chesed bleibt die Ausübung des (Un-)Rechts des Stärkeren. Halten sich Gevura und Chesed nicht die Waage, dann wird aus Güte Herablassung, und Wohlwollen wird zu Arroganz.
Diese Ambivalenz sehen wir auch in der Wortwurzel Chet–Samech–Dalet. In ihr ist beides angelegt: Güte und Beschimpfung, Liebe ebenso wie Verachtung. Der Ewige hat in uns Menschen die Wurzel zu Gut und Böse gelegt. An uns ist es nun, das Gute zu wählen, um Seiner Chesed nachzueifern.
Wie unzulänglich ist doch die menschliche Sprache, um die Begriffswelten des Ewigen in unsere beschränkten irdischen Vorstellungen zu übertragen! Das aufrichtige Studium der Tora aber vermag uns Menschen zumindest eine Ahnung von diesem G’ttlichen zu vermitteln.