Auf die Jamim Nora’im, an denen die jüdische Tradition auch in säkulare jüdische Häuser einzieht, folgt das siebentägige Sukkot. An dessen letzten Tag, Hoschana Rabba, endet die Zeit, da der Schöpfer Gericht hält über seine Geschöpfe, über jeden Einzelnen sein Urteil fällt und darüber bestimmt, welche Menge Regen das (trockene) Land Israel im neuen Jahr zu erwarten hat. An diesem Tag der lebenswichtigen Entscheidungen dient uns ein unscheinbares Bündel Weidenzweige als Erinnerung daran, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren.
Tora Die jüdische Tradition sieht in der Tora die Essenz der Schöpfung, die sich fortlaufend entfaltet und ihre Geheimnisse dem jüdischen Volk offenbart. In der Tora ist alles enthalten, die Informationen müssen nur mit dem jeweils richtigen Instrument entschlüsselt werden. Die klassische Methode der Torainterpretation nennt man PaRDeS. Dieses Akronym setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der vier aufeinander aufbauenden Bedeutungsebenen des Toratextes zusammen: Der erste Konsonant P steht für Pschat, die wörtliche Bedeutung. Der zweite Konsonant R steht für Remes, das heißt Anspielung, Allegorie. Der dritte Konsonant D entspricht Drasch, der interpretativen Bedeutung. Der letzte Konsonant S steht für Sod, deutsch: Geheimnis, und enthält mystische und esoterische Bedeutungen.
Die vier Bedeutungsebenen bauen aufeinander auf und basieren auf der jeweils niedrigeren Stufe der Erkenntnis. Zusammen bilden sie den Pardes, hebräisch für »Garten«. Die Arba Minim, die vier Arten von Pflanzen, aus denen der Lulav an Sukkot zusammengesetzt wird, symbolisieren im Midrasch die vier Typen jüdischer Toragelehrsamkeit, die als Einheit das Volk Israel bilden. Die Arawot (Weidenzweige) erhalten hierbei die schlechteste Kritik: Gleich der Weide, die weder Geschmack noch Geruch hat, gibt es Juden, die weder in der Tora bewandert sind noch wirklich Mizwot tun.
Ritual Warum bekommt diese mangelhafte Pflanze dann aber an Hoschana Rabba einen Soloauftritt, wenn Juden in aller Welt mit Weidenzweigen schlagen? Diese Tradition findet sich nicht in der Tora. Die Mischna berichtet im Traktat Sukka von einem Ritual am letzten Tag von Sukkot, an dem Weidenzweige verwendet wurden.
Rav Abraham Isaak Kook (1865–1935), einer der geistigen Väter des modernen religiösen Zionismus, identifizierte wie der Midrasch den Weidenzweig als Symbol für den einfachen Menschen, jedoch in einer positiven Weise: Der einfache Gläubige verfügt nicht über das volle Instrumentarium des Pardes, er hält sich an den einfachen Schriftsinn, den Gelehrten hingegen reizen schwierigste Interpretationen, die zwar den Text in neues Licht tauchen, aber auch die Gefahr in sich bergen, das man sich darin verliert.