Mark Dainow denkt, spricht und träumt vermutlich sogar auf Deutsch. Vor 40 Jahren kam er mit seiner Familie in Frankfurt an und lebt seit Jahrzehnten in Offenbach. Er fühlt sich wohl in der Stadt am Main und besitzt bereits seit Langem einen deutschen Pass. »Ich bin ein Jude in Deutschland, aber ich bin kein deutscher Jude«, sagt Mark Dainow jedoch, wenn er nach Heimatgefühlen gefragt wird. Er ist eher ein Wanderer zwischen den Welten. Heimat, das ist für ihn seine Familie und die jüdische Gemeinde Offenbach, deren stellvertretender Vorsitzender er seit 1998 ist – und Israel.
»Ich wurde zwei Stunden, bevor Ben Gurion den Staat Israel ausgerufen hat, geboren«, sagt Dainow: »Das hatte immer ein besondere Bedeutung für mich.» Gerade erst ist der 65-Jährige, der sich als Jugenddezernent im Zentralrat der Juden engagiert, zurückgekommen von einem Treffen mit dem israelischen Botschafter in Berlin. Anlass waren die Feiern zum 65. Jahrestag der Staatsgründung Israels.
Minsk Geboren wurde Mark Dainow am 15. Mai 1948 im weißrussischen Minsk, in der von Stalin regierten Sowjetunion. Ein bisschen hört man die Herkunft aus seiner sanften Stimme immer noch heraus, es ist ein melodisches Auf und Ab. Dainows Eltern unterhielten sich auf Jiddisch, wenn er und seine Schwester nicht mitbekommen sollten, worum es gerade ging. Das funktionierte aber nur so lange, bis die Kinder neben Russisch eben auch Jiddisch verstanden.
Obwohl dort geboren, war Minsk nie meine Heimat«, sagt Mark Dainow. Sein Vater, Hochschullehrer für Geschichte und Sprachen, wollte die Sowjetunion unbedingt verlassen und nach Israel auswandern. Obwohl sie sich als Juden nicht diskriminiert fühlten, pflegte die Familie religiöse Bräuche nur im Verborgenen. Strenggläubig war sie aber nicht. «Wir waren Drei-Tage-Juden«, sagt Dainow mit einem Lachen und meint damit die drei höchsten Feiertage.
Er studierte Maschinenbau, arbeitete als Ingenieur erfolgreich in einem Konstruktions-Institut. »Ich war dort einer der Besten«, sagt er. Dennoch war er in der UdSSR bereits Anfang der 70er-Jahre Mitglied der zionistischen Bewegung »Let my people go«. »Es war ein Glück, dass ich nicht im Gefängnis landete, wie viele andere«, erinnert er sich.
Sein Vater hatte dieses Glück nicht. Er hatte für sich und seine Familie mehrfach die Ausreise beantragt, erstmals wenige Jahre nach Stalins Tod 1953. Der Antrag wurde angenommen. Zweimal jährlich erkundigte sich der Vater fortan bei den Behörden nach dem Stand des Verfahrens. 1961 wurde er dafür wegen »antisowjetischer Propaganda« verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nur zweimal im Jahr durfte die Familie ihn besuchen. Fünf Jahre später kam er frei. Stalins Nachfolger Chruschtschow war abgesetzt, der Vater wurde freigelassen und rehabilitiert. 1972 durfte die Familie endlich ausreisen.
Israel Einen Zusammenhang sieht Dainow zum damaligen Besuch des US-Präsidenten Nixon in der Sowjetunion. Der gerade 24-Jährige war wegen des Staatsbesuches mit dem Zug unterwegs zu einer illegalen Demonstration von »Let my people go« vor der Zentrale der Kommunistischen Partei in Moskau, als er vom KGB aufgegriffen wurde. Er wurde aufgefordert, mit seiner Familie innerhalb von zehn Tagen das Land zu verlassen. Über die niederländische Botschaft in Wien reisten die Dainows nach Israel aus.
»In Tel Aviv holte uns damals der spätere Premier Jitzchak Schamir ab«, erinnert sich der 65-Jährige. Auch er stammte aus Weißrussland: »Wir sprachen Russisch miteinander.« Endlich im Land ihrer Sehnsucht angekommen, währte die Freude jedoch nur knapp ein Jahr. Die Familie lebte in Jaffa. »Mein Vater fand keine Arbeit. Er konnte als Geschichtslehrer nicht Fuß fassen.« Zum Herumsitzen und Nichtstun war er jedoch zu jung. 1973 zog die Familie nach Deutschland. In Frankfurt erhielt der Vater die Lehrerlaubnis, unterrichtete Geschichte, Russisch und Deutsch am Gymnasium.
Mark Dainow ist ohne Großeltern aufgewachsen. Der Großteil der Familie kam kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion um. Die Eltern seiner Mutter verhungerten auf der Flucht. Die Familie seines Vaters lebte in einem kleinen Dorf. 1941 wurden sie von deutschen Soldaten zusammengetrieben, eingesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Nur eine Tante und eine Nichte überlebten.
Wenn Dainow von ihren Schicksalen berichtet, dann spricht er von »den Faschisten«, die das getan haben. Der Offenbacher unterscheidet bewusst zwischen Nazis und Deutschen. Aus diesem Grund habe seine Familie damals auch nach Deutschland einreisen und dort leben können. »Man kann nicht alle in einen Topf werfen«, sagt er.
ZUKUNFT Fast 30 Jahre hat Mark Dainow im technischen Entwicklungszentrum von Opel in Rüsselsheim gearbeitet. Er hat geheiratet, zwei Kinder großgezogen, sich in der Gewerkschaft engagiert. Über seine Frau Jaqueline, Tochter eines Auschwitz-Überlebenden, fand er zur jüdischen Jugendarbeit, wurde Vorstandsmitglied im jüdischen Landesverband und mehr als nur ein »Drei-Tage-Jude«.
Die Offenbacher Gemeinde hat rund 900 Mitglieder, zumeist russische Zuwanderer. Wenn Dainow aus dem Fenster der Gemeinde schaut, sieht er die Kinder des jüdischen Kindergartens im Sand spielen. »Die Kinder sind unsere Zukunft«, sagt er lächelnd. Die Zuwanderer seien meist Akademiker und kulturinteressiert. Über die Kultur versucht er, sie in die Gemeinde zu integrieren und an die Religion heranzuführen: »Eine schwierige Aufgabe. Die haben wir noch nicht ganz gelöst, aber wir haben einiges dafür getan.«