Das kollektive jüdische Gedächtnis prägt Gegenwart und Zukunft, und die Konstanzer Öffentlichkeit ist ein wichtiges Publikum: In diesen Punkten unterschieden sich die beiden Festvorträge zum europäischen Tag der jüdischen Kultur nicht sehr. Dennoch feierten die zwei jüdischen Gemeinden in Konstanz am Sonntag für sich und zählten jeweils 70 bis 80 Besucher, denen sie Einblicke in ihren Glauben und ihr Zusammenleben gaben. Und deutlich wurde auch: Ganz aufgegeben haben sie die Hoffnung auf eine neue Synagoge in der Stadt am Bodensee noch nicht.
jüdische Historie Die 50 Jahre, die die orthodox geprägte Israelitische Kultusgemeinde in der Sigismundstraße an diesem Sonntag feierte, stellte Festredner Erhard Roy Wiehn in den großen Zusammenhang vom frühen Mittelalter bis heute. Der frühere Professor im Fachbereich Geschichte und Soziologie der Uni Konstanz ist der wohl beste Kenner der jüdischen Geschichte in Konstanz.
Dass 1964 im Nissenbaumschen Haus in der damals neuen Synagoge erstmals wieder Pessach gefeiert werden konnte, nannte Wiehn einen Glücksfall, der bis heute fast unglaublich scheine. »Den Toten zur Ehre, den Lebenden zur Lehre« war der Wahlspruch, aktuell sei er bis heute. Es folgten »gesegnete Jahre«, wie Wiehn sie nannte, mit einem offenen Gemeindeleben, mit starken Frauen und großem Gemeinschaftsgefühl.
Veränderungen Besonders würdigte er die Rolle des Gemeindebegründers Sigmund Shimon Nissenbaum. Er deutete an: Die Kultusgemeinde habe die tiefgreifenden Veränderungen durch die Zuwanderung von Juden aus der zerbrechenden Sowjetunion womöglich noch nicht ganz bewältigt. Benjamin Nissenbaum, Ehrenvorsitzender der Gemeinde, und Gabriel Albilia, zweiter Vorsitzender, zeigten sich »überwältigt« vom großen historischen Zugriff Wiehns und wollen den Vortrag gerne als Broschüre veröffentlichen.
Ganz andere Themen standen für den Berliner Rabbiner Tovia Ben-Chorin im Vordergrund. Im Wolkensteinsaal gab er auf Einladung der liberal geprägten Jüdischen Gemeinde Konstanz einen Einblick in das Menschenbild im Judentum. Und weil das nirgends so deutlich wird wie bei Festen und Ritualen, ging er für seine Zuhörer durch den jüdischen Kalender.
Zu hause Die Zweiheit von Volk und Land Israel, die Erfahrung des »Überall-nicht-zu-Hause-Seins«, wie Wiehn es nannte, zugleich die Verbindung ins gesamte Konstanzer Gemeinwesen und nicht zuletzt das europaweite Motto des Kulturtages, das auf die Frauen im Judentum abzielte: All das ließ sich am Sonntag in vielen verschiedenen Facetten erleben. Dass künftig der Europäische Tag der jüdischen Kultur gemeinsam gefeiert wird, hoffte Benjamin Nissenbaum, der auch an das Projekt einer neuen Synagoge für die Stadt erinnerte.