Natürlich wäre ein Kaffee jetzt schön. Doch an Jom Gedalja verzichtet Naftoly Surovtsev aufs Essen und Trinken. Der zweite Tag nach Rosch Haschana ist einer der sechs Fastentage im Jahr. Der frisch ordinierte Assistenz-Rabbiner in Köln hält den ganzen Tag bereits aus, die Müdigkeit lässt er sich nicht anmerken. Die großen runden Augen sind weit geöffnet und der Blick konzentriert, während er seine Worte ruhig und bedacht wählt.
Zu Rosch Haschana hatte er noch keine nennenswerten Aufgaben. Schließlich waren er und seine Frau auch gerade erst angekommen. Erst vergangenen Monat erfuhr er, dass für Köln nun alles feststehe. »Ich beendete meine Schule, und mir wurden mehrere Gemeinden vorgeschlagen, unter anderem Chemnitz und Saarbrücken, in denen ich arbeiten könnte.«
Erfahrungen Naftoly Surovtsev hatte bereits Gemeinden in Brandenburg und Sachsen kennengelernt – sei es, um dort Unterricht zu geben oder Schabbatot durchzuführen. »Ich war in Frankfurt/Oder, Leipzig und Chemnitz.« Klar, in den anderen Gemeinden hätte er der Hauptrabbiner der Stadt werden können. In Köln sei ihm die Assistenzstelle angeboten worden. »Ich entschied für mich, dass mir die Verantwortung als Assistenz-Rabbiner für den Anfang reicht. Ich mag die Stadt und würde hier auch gerne bleiben. Außerdem will meine Frau hier an der Musikhochschule studieren.« Die beiden sind seit März verheiratet. Seine Frau stammt aus Moskau und war nach Deutschland gekommen, um am Frauen-Jeschiwa-Seminar zu studieren.
In der Kölner Gemeinde fühlten sie sich sofort wohl. Innerhalb der Gemeinde gebe es wenig Stress, das Verhältnis untereinander sei sehr freundlich. Inzwischen arbeitet der junge Rabbiner bereits den ganzen Samstag über: Er ist für den Gottesdienst verantwortlich, bereitet Jom Kippur vor und liest dafür viele Kommentare.
Aufgaben Die Arbeitsverteilung zwischen ihm und Rabbiner Engelmayer steht fest: »Alles, was der Rabbiner nicht schafft, werde ich machen müssen.« Einen Teil der Jugendarbeit nimmt er ihm zum Beispiel ab, und zu den Schabbatgottesdiensten in Porz oder Chorweiler entlastet er ihn ebenfalls. Repräsentative Angelegenheiten übernimmt weiterhin ausschließlich Rabbiner Engelmayer – zum Beispiel Treffen mit dem Oberbürgermeister oder interreligiösen Dialog mit Muslimen. »Wenn ich nicht gerade Unterricht gebe oder nicht irgendwo hinfahren muss, um Beerdigungen oder Gottesdienst zu organisieren, beantworte ich im Büro E-Mails und lerne.«
Eigentlich wollte der gebürtige Minsker Jurist werden. »Recht hat mich immer interessiert«, sagt der 25-Jährige. Besonders religiös sei die Familie zwar nicht gewesen, dennoch entschieden die Eltern sich, ihn mit 15 Jahren in einer religiösen Schule unterzubringen. Nach seinem Schulabschluss in der kleinen weißrussischen Stadt Pinsk wollte er unbedingt zwei Jahre an einer Jeschiwa studieren.
Doch 2006 entschlossen sich die Eltern, nach Deutschland auszuwandern. So fiel seine Wahl auf die Talmudschule in Berlin. »Vor allem das Studium der jüdischen Gesetze hat mich beeindruckt. Ein großer Teil befasst sich mit Besitz und Eigentumsrecht«, erzählt er fasziniert. »Nach einigen Jahren schlug man mir vor, ein Rabbinerseminar zu belegen.« Nun ist er seit zwei Wochen in Köln.
Infrastruktur Seine Entscheidung für die Rheinmetropole habe auch mit der guten Infrastruktur zu tun, erzählt Surovtsev. Die Synagogen-Gemeinde sei eine große Community. Es gebe alles, was für ein jüdisches Leben wichtig sei: ein koscheres Lebensmittelgeschäft, eine Mikwe, eine Synagoge, ein Restaurant. In kleineren Gemeinden sei dies nicht so und daher viel komplizierter, Feiertage zu begehen.
Köln erinnere ihn an Berlin. Dort lebte er im jüdischen Viertel um die Brunnenstraße herum und studierte in dem Institut, das auch als Hildesheimer’sches Rabbinerseminar bekannt ist. »Wir hatten dort alles – einen jüdischen Kindergarten, koschere Läden. Wir waren etwa 60 religiöse Familien, die hier zusammen lebten. Das meiste, was ich an Judentum während dieser Zeit kennengelernt habe, spielte sich dort ab.« Verglichen mit Köln seien es natürlich zwei Welten. »Es war wie ein kleines Antwerpen.«
In diesem Sinne möchte er wohl auch in Köln wirken und erinnert daran, dass Juden eigentlich dreimal am Tag beten sollten. Doch viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion beherzigen das eher selten, hat er in Köln festgestellt. »Ich motiviere die Menschen, zu Jom Kippur in die Synagoge zu kommen.« Einen Plan hat er schon: »Ich möchte private Unterweisungen anbieten für wohlhabendere Menschen.« Es sei wichtig, dass auch solche Leute die Tora studieren und der Gemeinde vielleicht finanziell helfen können.