Würzburg

Zukunft ohne Zeitzeugen

Wird der Holocaust das kollektive Bewusstsein Deutschlands weiter so stark prägen wie bisher? Wie kann eine lebendige Gedenkkultur an die Schoa in Zukunft aussehen – ohne noch lebende Zeitzeugen?

Mit diesen Fragen beschäftigten sich die drei Spitzenvertreter des Judentums und der Kirchen in Deutschland: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, und Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 hatte der Zentralrat der Juden zu einer Podiumsdiskussion ins Shalom Europa, das Zentrum der Jüdischen Gemeinde Würzburg und Unterfranken, eingeladen. »Keine deutsche Identität ohne Auschwitz? Erinnerungskultur 80 Jahre nach der Reichspogromnacht« lautete das Thema.

werte Moderiert von der Journalistin Ilanit Spinner, tauschten die kirchlichen Amtsträger und der Zentralratspräsident ihre Gedanken zur aktuellen und künftigen Bedeutung des Erinnerns an den Holocaust aus. Zuvor hatten sie an einer Gedenkveranstaltung am einstigen Standort der ehemaligen Synagoge in der Würzburger Domerschulstraße teilgenommen und gesprochen. Beide Kirchenvertreter betonten, dass sie die Erinnerung an die Schoa zu einer politischen Kultur in Deutschland rechnen, die sie als positiv bewerten.

»Unser kulturelles Gedächtnis ist dadurch davon geprägt, dass wir auch auf die dunklen Seiten der Geschichte schauen«, sagte Heinrich Bedford-Strohm. Das Hinschauen auf die schlechten Seiten der Vergangenheit sei in anderen Ländern nicht selbstverständlich. So habe Südafrika die Zeit der Apartheid noch kaum aufgearbeitet, ebenso wenig Amerika den Umgang mit den Ureinwohnern.

Auch mehrere osteuropäische Staaten beschäftigten sich kaum öffentlich mit den dunklen Kapiteln ihrer Vergangenheit. Mangelndes Bewusstsein für den Wert der Demokratie und den Schutz der Menschenwürde sei die Folge. Rechtspopulistische und andere antidemokratische Strömungen fänden ein empfänglicheres Publikum vor. »Durch die furchtbare Geschichte ist immerhin etwas in Gang gekommen, das wir bewahren müssen«, sagte Reinhard Marx. »Geschichte war sonst eher eine Geschichte der Sieger.« Das Verdrängen unguter Zeiten der Historie betreffe nicht zuletzt die Kirche.

einzelschicksale Dessen ungeachtet ist in Deutschland – wie weltweit auch – der Populismus auf politischer Ebene massiv erstarkt. Die AfD ist im Bundestag und allen 16 Landtagen vertreten. »Viele Menschen gehen aber bei uns auf die Straße gegen diese Entwicklung«, sagte Bedford-Strohm. »Sie stehen für eine Demokratie ein, zu der diese Erinnerungskultur gehört, weil sie an etwas ermahnt, das die Würde des Menschen im Kern und damit unser Wertesystem verletzt.«

Josef Schuster erachtet besonders die in den letzten Jahren verstärkt gestarteten lokalen Initiativen des Gedenkens an den Holocaust als wichtig für die Zukunft. Denn aufgearbeitete Einzelschicksale machten die Nazi-Verbrechen und ihre Folgen gerade jungen Menschen anschaulich. In Würzburg waren es privat engagierte Bürger, die die Initiative »Gedenkort Aumühle« ins Leben riefen. Zur Deportation gingen viele Juden einen Weg von der Sammelstelle bis zu einer Rampe am Güterbahnhof. Entlang diesem Weg erinnern seit einem Jahr mehrere Tafeln an deren Verschleppung und Ermordung.

Auch den inzwischen in zahlreichen Städten verlegten Stolpersteinen spricht Schuster zu, gut wahrgenommen zu werden. In Würzburg beispielsweise erinnern direkt vor dem Eingang von »Galeria Kaufhof« zwei Steine an das Ehepaar Ruschkewitz, dem das Vorgänger-Kaufhaus gehörte.

»Die Schulen sollten das Thema in einer Weise nahebringen, die Empathie, Mitgefühl erzeugt«, sagte Schuster. Filme und Aufnahmen von Zeitzeugenberichten seien geeignete Mittel, die emotionale Ebene anzusprechen. Gerade in der Zukunft, in der es keine Zeitzeugen mehr geben wird, könnten sie die Herzen der nachfolgenden Generationen erreichen.

justiz Schuster wies darauf hin, dass eine intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Deutschland erst in den 60er-Jahren begonnen habe. Im Detail wird die Zeit von 1933 bis 1945 bis heute erforscht. So beschäftigen sich etwa im Rahmen des »Rosenburg«-Projekts derzeit Wissenschaftler mit der Geschichte des Justizministeriums. »Zahlreiche Namen unter den Mitarbeitern waren Anfang und Ende der 40er-Jahre identisch«, sagte Schuster.

Erst 2017, im Jahr des Reformationsjubiläums, habe die evangelische Kirche sich unter größerer öffentlicher Beachtung mit Martin Luthers antijüdischen Schriften auseinandergesetzt und sich von ihnen dis­tanziert. Das Erinnern an die Schoa sieht der Zentralratspräsident nicht zuletzt als Pflicht gegenüber den Opfern. »Wir haben sechs Millionen Gründe zu gedenken.« Der Holocaust sei ein Menschheitsverbrechen, »das die Welt in dieser Form zuvor nicht gesehen hat und das sichtbar macht, was passieren kann«.

Reinhard Marx sieht zum einen die Gestaltung von Gedenkstätten zu Orten der Begegnung als wesentlichen Beitrag zu einem lebendigen Erinnern. Zum anderen sei der Bezug zur Gegenwart notwendig: Warum geht uns das heute noch so viel an? Wie ist es möglich, dass ganz normale Menschen andere Menschen töten?

patriotismus In einer aktuellen Umfrage gaben 32 Prozent der Deutschen an, nicht mehr über den Holocaust sprechen zu wollen. 58 Prozent lehnten andererseits den viel zitierten »Schlussstrich« ab. »Das sind mehr Menschen als vor zehn Jahren«, sagte Schuster. Durchaus könne dies ein Erfolg der gegenwärtigen Erinnerungskultur sein.

Mit Äußerungen wie »Ich bin stolz, Deutscher zu sein« als Gegenreaktion auf missverstandene Schuldzuweisungen können alle drei Diskussionspartner allein inhaltlich nichts anfangen. Stolz auf ein Land zu sein, falle ihm schwer, meinte Josef Schuster. Stattdessen befürworte er einen gesunden Patriotismus. »Beispielsweise kann ich durchaus sagen, dass ich gern in Würzburg und in Bayern lebe.«

Reinhard Marx würde theologisch den Begriff Stolz durch Dankbarkeit ersetzen. Weil Stolz sich auf Eigenleistung bezieht, ist der Begriff religiös nicht nur positiv besetzt. In einem Land geboren zu werden, sei keine Eigenleistung, so Bedford-Strohm. In diesem Zusammenhang sehe er auch den Begriff Selfmademan problematisch. »Ich würde eher vom Godmademan sprechen, da wir alle auch Resultate unseres Umfeldes sind.«

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