Ich wurde 1992 in Frankfurt am Main geboren. Meine Mutter kommt aus Litauen, mein Vater aus Chicago. Beide haben sich in Frankfurt kennengelernt. So bin ich zweisprachig mit Englisch und Deutsch aufgewachsen. Ich bin ein »Kind der Gemeinde« – ich besuchte den Kindergarten der Jüdischen Gemeinde und war später auf der I. E. Lichtigfeld-Schule. Schon früh bin ich ins Jugendzentrum »Amichai« gegangen.
Ostend Ab dem siebten Lebensjahr bin ich bei den Eltern meiner Mutter im Frankfurter Ostend groß geworden. Sie haben neben dem Hochbunker an der Friedberger Anlage, der von den Nationalsozialisten anstelle einer Synagoge errichtet worden war, gelebt.
Die Frankfurter Gemeinde ist hauptsächlich traditionell. Wir sind an den Feiertagen oft in die Synagoge gegangen. Pessach haben wir auch zusammen gefeiert. Als Kind war ich zudem oft in den USA. Dort habe ich schnell eine andere, vor allem die konservative, Seite des Judentums kennengelernt. Als Jugendlicher habe ich angefangen, mich im Frankfurter Jugendzentrum zu engagieren.
Mit 17 wurde ich Madrich und übernahm eine Gruppe von hauptsächlich Zehn- bis Zwölfjährigen. Die gleichen Kinder habe ich auch auf Machanot betreut. Vier Jahre lang war ich Madrich.
Seit Jahren frage ich mich, wie ich zu Deutschland stehe.
2011 begann ich, Wirtschaftswissenschaften an der Frankfurter Goethe-Universität zu studieren – mit einem Stipendium vom Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES). Dadurch musste ich keine Nebenjobs machen und konnte so auch ehrenamtlich aktiv sein. Ich wollte mich schon immer studentisch einbringen, wusste aber anfangs nicht, wie. Bei ELES boten sich dafür viele Möglichkeiten: 2013 wurde ich Regionalgruppensprecher und konnte nun die Verantwortung für junge Menschen auf die Altersgruppe von 18 bis 35 erweitern.
Mit Menschen zusammenzuarbeiten, war mir immer schon wichtig. Ich übernehme gerne Verantwortung, leite gern Gruppen – und das will ich in Verbindung mit dem Judentum erleben.
JUGENDZENTRUM Im Jugendzentrum ging es darum, nicht nur das Judentum, sondern auch menschliche Werte spielerisch zu vermitteln. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, auch kreativ zu sein. In der Schulzeit schon habe ich angefangen, Texte zu schreiben und zu vertonen, hauptsächlich Rap. Für die Jewrovision 2012 habe ich für das Video des Frankfurter Jugendzentrums einen Text geschrieben und aufgenommen. Wir gewannen sogar den Videopreis. Das war ein schöner Moment.
Die ELES-Regionalgruppensprecher wurden einmal gefragt, ob sie »Hillel« in den Städten machen würden. Hillel ist eine große internationale Studierendenorganisation. Es ging darum, sie in Frankfurt zu etablieren. Ich war sofort begeistert. Hillel war mir ein Begriff. Damit kam für mich ein bisschen Amerika hierher.
Ich organisierte Events für Studierende und junge Erwachsene, darunter das Programm »Tora on Tour«: Zwei ELES-Stipendiaten reisten durch mehrere Städte und machten eine Art »Open Session«, bei der man neben einem Toraabschnitt auch über alles Mögliche sprechen und Fragen stellen konnte. Wir sind aber auch zusammen zur Frankfurter »Nacht der Museen« gegangen.
machanot Die Vernetzung jüdischer Studierender war 2011 nicht so groß. Ich habe Leute auf Machanot, bei der Jewrovision oder auf dem Jugendkongress kennengelernt. In der Stadt gab es hier und da etwas, vor allem religiöse Angebote, aber auch eine Partyreihe. Es gab aber nichts Regelmäßiges. Durch Hillel habe ich versucht, genau so etwas aufzubauen. Es hat auch gut geklappt. Es gab Events, zu denen bis zu 50 Leute kamen. Wir hatten Karaoke- und Bowlingabende, Kino- und Barabende, aber auch Schabbat mit dem Rabbiner.
Daraufhin begann ich, mich bei Hillel Deutschland zu engagieren. Ich versuchte, in anderen Städten etwas aufzubauen. Schließlich habe ich mich auch für das internationale Hillel Student Cabinet beworben – eine Gruppe von 24 Leuten aus der ganzen Welt. Dort habe ich mich eineinhalb Jahre lang eingebracht. Das ließ aber irgendwann nach.
Daraufhin habe ich mich bei den Wahlen der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) aufstellen lassen. Ich hatte die Vision, das Regionale, das ich versucht habe aufzubauen, auf nationaler Ebene fortzuführen. Ich wurde 2017 in den JSUD-Vorstand gewählt. Es ging darum, in den einzelnen Bundesländern jüdische Studierendengruppen zu gründen.
Nach meinem Bachelor-Abschluss 2015 studierte ich Accounting and Finance an der Fachhochschule Frankfurt. In meiner Masterarbeit Ende 2017 ging es um Risikowahrnehmung und Risikoeinstellung. Mittlerweile arbeite ich in der Anti-Korruptionsabteilung einer großen Bank. Ich überprüfe die Kunden, recherchiere viel über Unternehmen und Nachrichten.
NETZWERK Nach dem Studienabschluss wurde ich gefragt, ob ich mich beim Jewish Diplomatic Corps des Jüdischen Weltkongresses engagieren möchte. Das ist ein internationales Netzwerk von mittlerweile 300 jungen jüdischen Erwachsenen zwischen 27 und 45. Es gibt dort Arbeitsgruppen, zum Beispiel für den Kampf gegen BDS und Antisemitismus oder auch für den interreligiösen Dialog. Ich bin Ansprechpartner, wenn es um Judentum in Deutschland, Frankfurt und die Region geht.
Beim Jüdischen Zukunftskongress, der 2018 in Berlin stattfand, war ich auf einem Panel, bei dem es um die Frage ging, wie man Young Professionals miteinander verbinden kann. Dort habe ich die Sicht des Jewish Diplomatic Corps vertreten und auch meine Ideen eingebracht. Für mich ist die Idee eines Netzwerks jüdischer Young Professionals nach wie vor interessant. Als Berufstätiger habe ich nicht so viel Zeit wie im Studium. Trotzdem bin ich noch im Verband Jüdischer Studierender Hessen aktiv. Wir haben zum Beispiel zwei Schabbaton-Wochenenden in Darmstadt veranstaltet.
Es ist eine Herzensangelegenheit für mich, die Rhein-Main-Region mit jüdischem Leben zu füllen.
Es ist eine Herzensangelegenheit für mich, die Rhein-Main-Region mit jüdischem Leben zu füllen. Es geht nicht nur um Frankfurt. In meiner ganzen ehrenamtlichen Arbeit war es eines meiner Hauptanliegen, eine nachhaltige Struktur zu schaffen. Ich finde es wichtig, dass junge jüdische Menschen eine lokale Anlaufstelle haben, einen Ort, um sich zu treffen und Jüdischkeit zu erfahren. Junge Leute sind die Zukunft. Es geht darum, dass junge Studierende und Erwachsene später die Gemeinden mitgestalten. Junge Juden brauchen eine Gemeinschaft. Ich möchte Teil der Gemeinschaft sein.
In der Jüdischen Gemeinde Frankfurt bin ich sehr glücklich – ich war hier immer zu Hause. Mit dem Rabbinat organisieren wir alle zwei bis drei Monate einen großen Studierenden-Schabbat. Er ist nicht nur religiös. Die Rabbiner greifen auch intellektuelle Themen auf. Ich glaube, es liegt der Frankfurter Gemeinde etwas daran, dass junge Leute sich einbringen. Ich finde den pluralistischen Aspekt der Gemeinde wichtig. Ob traditionell, religiös, konservativ oder reformiert: In Frankfurt gibt es dafür Platz.
Wenn junge jüdische Menschen aus anderen Städten nach Frankfurt kommen, werden sie häufig an mich verwiesen. Ich fühle mich als Ansprechpartner und eine der Personen, die junges jüdisches Leben in Frankfurt in den vergangenen Jahren mitgeprägt haben. Zehn »meiner« Kinder, die ich früher als Madrich betreut habe, sind jetzt selbst Madrichim im Jugendzentrum. Das erfüllt mich mit Freude, denn es zeigt: Das jüdische Prinzip »von Generation zu Generation« zieht sich wie ein roter Faden durch die Gemeinde. Auch bei der JSUD sind neue junge Menschen hinzugekommen. Das sind nachhaltige Strukturen, die von jungen Leuten selbst gestaltet werden.
DIASPORA Seit Jahren frage ich mich, wie ich zu Deutschland stehe, wie ich mir jüdisches Leben hier vorstelle. In meinen Augen war der Antisemitismus nie wirklich weg. Es wird so dargestellt, als sei er plötzlich da. Angst und Unsicherheit in der jüdischen Bevölkerung sind größer geworden. Halle hat es leider noch einmal bekräftigt. Das ist in den Köpfen drin, man merkt das. Meine Großeltern sind immer skeptisch gewesen, ob Deutschland ein Ort für Juden ist. Sie waren stolz darauf, was ich gemacht habe.
Es war mir wichtig, dass junges jüdisches Leben hier nach dem Zweiten Weltkrieg stattfindet. Es ist wichtig, dass es die jüdische Diaspora in Deutschland gibt.
Ich bin traditionell jüdisch, aber nicht orthodox. Für mich war es wichtig, dass meine Freundin jüdisch ist. Ich habe mich nach jüdischen Freunden und Kreisen gesehnt. Es zieht mich immer wieder zur jüdischen Gemeinschaft.
Es wäre ideal, wenn sich junge jüdische Menschen in Deutschland wohlfühlen würden. Aber es ist meistens ein Fragezeichen da. Selbst wenn man nicht religiös ist, wird man daran erinnert, dass man jüdisch ist. Obwohl ich sehr viel für jüdische Zukunft hier in Deutschland mache, weiß ich im Moment nicht, ob ich meine jüdische Zukunft hier sehe.
Aufgezeichnet von Eugen El