München

Zu viel der Ehre

Grund des Streits: die Treitschkestraße in München-Moosach Foto: Marina Maisel

Kann sich die als weltoffen gepriesene Stadt München auch weiterhin eine Straße leisten, die nach dem Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) benannt ist? Der Berliner Professor gilt als geistiger Vater des modernen Antisemitismus und wird nach wie vor wegen seines Satzes »Die Juden sind unser Unglück!« von Antisemiten aller Couleur verehrt.

Das zuständige Kommunalreferat der Stadtverwaltung ist sich der Problematik bei der Namensgebung für die Straße im Stadtteil Moosach durchaus bewusst. Die erhöhte Sensibilität in der Behörde rührt unter anderem auch daher, dass der Straßenname kein unbeachtetes Relikt aus der vorrepublikanischen Zeit ist, sondern der Straße erst 1960 zugeordnet wurde. Wer damals den Namen Treitschke durchgesetzt hat, lässt sich nach Angaben einer Mitarbeiterin im Kommunalreferat heute nicht mehr klären.

Petition Eine von Michael Movchin initiierte Online-Petition will die Umbenennung der Treitschkestraße erreichen. Diese Forderung wurde in der Vergangenheit schon mehrfach erhoben, ohne dafür im Rathaus eine beschlussfähige Mehrheit zu finden. Auch Münchens Oberbürgermeister Christian Ude war in seiner Amtszeit (1993–2014) damit konfrontiert. In einer Stellungnahme, die auf der Website www.muenchen.de nachzulesen ist, muss er argumentativ weit ausholen, um seine Ablehnung eines Namenswechsels zu begründen.

Immerhin hält auch Ude Treitschke für einen Nationalisten und Antisemiten, allerdings auch für einen bedeutenden Historiker, der wichtige Impulse gegeben habe. »Seine Inanspruchnahme und Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten«, schreibt der Ex-Oberbürgermeister, »ist für die Stadt nicht Grund genug, eine Straßenumbenennung zu veranlassen.«

Diese »Inanspruchnahme und Instrumentalisierung« des Antisemiten Treitschke, der in der zweiten Hälfte das 19. Jahrhundert als nationalliberaler Abgeordneter im Reichstag saß, fand Jahrzehnte später in der NS-Zeit auf eine besonders entwürdigende Weise ihren Niederschlag. In jeder Ausgabe der antisemitischen Zeitung »Der Stürmer« erschien auf Seite eins der bereits erwähnte und als »Glaubensbekenntnis« ausgegebene Satz: »Die Juden sind unser Unglück!«

inakzeptabel Relativierungen der Person Treitschke, um eine Namensänderung der Straße zu vermeiden, will IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch nicht gelten lassen. »Gerade in einer Zeit, in der Antisemitismus, Rassismus und Unterdrückung neue Höhenflüge erleben, sollte man besondere Sensibilität walten lassen«, sagt Knobloch.

»Dass der Name Treitschke auf einem Straßenschild für einen Juden nicht hinnehmbar ist, liegt auf der Hand. Es sollte angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts aber auch für jeden deutschen Nichtjuden inakzeptabel sein«, so Knobloch weiter. Generell sei es schlimm, dass es immer noch viele ähnliche Beispiele bei der Benennung von Plätzen und Straßen in Deutschland gibt. »Das sollte es 70 Jahre nach Befreiung der Konzentrationslager wirklich nicht geben«, sagte die IKG-Präsidentin.

Der Satz, der zum Schlagwort des »Stürmers« wurde, stammt aus dem Treitschke-Aufsatz »Unsere Aussichten« aus dem Jahr 1879 und löste den sogenannten »Berliner Antisemitismusstreit« aus. Der viel gelesene Historiker forderte darin die Assimilierung der in Deutschland lebenden Juden und die vollständige Aufgabe ihrer Identität. Bei der Einschätzung von Treitschkes Persönlichkeitsprofil wird zu seinen Gunsten gerne ins Feld geführt, dass er die Rassenlehre als Grundlage der nationalen Ideologie abgelehnt habe. Aber auch er sprach von »Blutvermischung« und »Mischkultur«.

Rassenwahn Die von Treitschke ausgelöste Antisemitismusdebatte erfasste zunächst vor allem Historiker und Wissenschaftler an den Universitäten, dann breitete sie sich auch in den anderen Schichten der Gesellschaft aus. Viele Historiker vertreten die Ansicht, dass er dem Judenhass Zutritt zu den Universitäten verschafft und ihn im Bürgertum hoffähig gemacht habe. Als Treitschke am Ende des 19. Jahrhunderts starb, war er ein überwiegend geachteter Mann. Heute, 70 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Rassenwahns, wird er wegen seines Antisemitismus überwiegend abgelehnt.

In einigen Städten wie Nürnberg und Heidelberg wurde der Name Heinrich von Treitschke aus dem Straßenverzeichnis getilgt. München, aber auch die Bundeshauptstadt Berlin sowie einige andere Kommunen sahen dazu bislang keine Veranlassung, wobei Bayerns Landeshauptstadt eine Ausnahme darstellt. In den anderen bayerischen Städten wurde der Professor mit den dezidiert antisemitischen Positionen entweder in den unmittelbaren Jahren nach seinem Tod oder während der Nazizeit auf Straßenschildern verewigt, und nicht wie in München erst lange nach dem Holocaust.

In der Stadtverwaltung jedenfalls wird eine mögliche Straßenumbenennung auch unter ganz pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet. »Bei einer Umbenennung der Straße«, erklärt die zuständige Mitarbeiterin beim Kommunalreferat, »fallen für die Bewohner unter Umständen sehr hohe Kosten an. Auch das muss mit berücksichtigt werden.«

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