Eine muslimische Theologin, ein Rabbiner, ein katholischer Moraltheologe und die Frage: Sind alle Menschen gleich? Zum 100. Katholikentag in Leipzig ist der große Saal des Ariowitsch-Hauses, Begegnungszentrum jüdischer Kultur in Leipzig, mit einigen Hundert Besuchern überfüllt.
Viele sind gekommen, um große Fragen zu stellen: Können die Religionen friedlich miteinander leben? Wie viel Gewalt wohnt den großen Weltreligionen inne? In etlichen Anmerkungen aus dem Publikum schwingen jene Ängste und Befürchtungen mit, die in Deutschland seit geraumer Zeit vermehrt in Hass, Drohungen und Gewalt gegen Minderheiten umschlagen. Vor allem gegen Flüchtlinge und Muslime.
Die muslimische Theologin Hamideh Mohagheghi wird nach jener berüchtigten Sure gefragt, die Muslime vermeintlich dazu auffordert, Ungläubige zu töten, wo immer sie angetroffen werden. Die Theologin erklärt den Kontext, betont, dies sei kein allgemeiner Mordaufruf, sondern beschreibe ein Recht auf Verteidigung im Angriffsfall. Rabbiner Andreas Nachama und der katholische Moraltheologe Rupert Scheule diskutieren die Bedeutung des alttestamentlichen Prinzips »Auge um Auge« und die – eher geringe – Missbrauchsanfälligkeit des Neuen Testaments.
Kulturkampf Rabbiner Nachama ist grundsätzlich davon überzeugt: Jeder Mensch, der Gutes tut, hat Zugang zu Gott, egal ob Jude, Muslim, Katholik oder Atheist. Eine Liedermacherin beschwört zwischendurch singend den Segen einer Streitkultur, aber zwischen diesen selbstkritischen Repräsentanten ihrer jeweiligen Religion bleibt der Kulturkampf um den richtigen Glauben aus.
Es ist eine respektvolle, nachdenkliche und bisweilen sogar heitere Runde, die stellvertretend für viele Podien des Katholikentags steht. Große Fragen, offener, aber respektvoller Diskurs, der aber nie vorgibt, letzte Antworten zu präsentieren. Auf diese Weise wurde über Flüchtlinge, Integration und die Wiederkehr eines völkischen Nationalismus in Deutschland und Europa debattiert. Und eben darüber, wie sich Religionen und deren Gläubige vertragen können. Debatte, Diskurs und argumentative Nachdenklichkeit sind in Zeiten hasserfüllter Internethetze und aggressiver Stimmungsmache bereits Werte an sich.
Beispielhaft die Rede von Wolfgang Thierse auf einem Podium zum Rechtsextremismus, der in einer ebenso leidenschaftlichen wie besonnenen Ansprache den neuen Rassismus aus christlicher wie demokratischer Sicht verurteilte. Sein humanistischer Appell für eine solidarische Demokratie erhielt großen Zuspruch.
Es war ein Katholikentag der leisen Töne, aber deutlichen Botschaften. Beim Abschlussgottesdienst vor 20.000 Gläubigen auf dem Augustusplatz mahnte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Reinhard Marx, eindringlich und unmissverständlich Menschlichkeit gegenüber Flüchtlingen an und ging deutlich auf Distanz zum grassierenden Rechtspopulismus mit seinen Feindbildern. Die nichtkonfessionellen Leipziger blieben mehrheitlich eher auf Distanz zu den etwa 40.000 katholischen Besuchern.
Ganz anders die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig, die interessierte Katholiken nicht nur ins Kulturzentrum einlud, sondern auch in die Synagoge. Warum? Küf Kaufmann, der langjährige Vorsitzende der Gemeinde und Präsidiumsmitglied im Zentralrat, sagte selbstbewusst: »Wir fühlen uns in dieser Stadt nicht als kleine Randgruppe, sondern wollen uns als bedeutenden Teil des öffentlichen Lebens präsentieren. Das Ariowitsch-Haus ist zu einem wichtigen kulturellen Treffpunkt für Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Glaubensrichtungen geworden. Es ist offen für alle. Der Katholikentag ist ein tolles Festival, das Menschen ins Gespräch bringt. Das unterstützen wir.«
Waldstrassenviertel Wäre es vor Jahren nach einem Anwohner gegangen, gäbe es hier keine Diskussionsveranstaltungen und auch keine jüdische Kultur. Der Anwohner klagte, weil er den Wert seiner Immobilie durch das Begegnungszentrum bedroht sah. Andere Anwohner, Kirchenvertreter und Bürger solidarisierten sich daraufhin mit der jüdischen Gemeinde. Das Ariowitsch-Haus, ein ehemaliges jüdisches Altenheim, wurde schließlich doch als Begegnungsstätte eröffnet und brachte jüdisches Leben zurück ins Leipziger Waldstraßenviertel. Zum Katholikentag ist es beliebte Anlaufstelle für Begegnungen und ein Ort des Dialogs.
Die beiden Studentinnen aus Polen und Tschechien haben soeben im Ariowitsch-Haus die Ausstellungseröffnung zum christlich-jüdischen Dialog besucht. In Regensburg studieren sie Sozialarbeit und erzählen von grassierenden Vorurteilen in ihren Heimatländern, die sich gegen Fremde, vor allem gegen Muslime, richten. Viele ihrer Landsleute schauten nur noch auf die eigene Nation, nur wenige interessierten sich für andere Religionen und Kulturen, berichten die jungen Frauen.
Auf dem Katholikentag suchen sie das Verbindende. Darum sind die beiden ins Ariowitsch-Haus gekommen. »Wir sind doch alle Brüder und Schwestern«, sagt die Polin Mikolajczak.
Diese Suche nach Verbindung, nach Konsens und Gemeinsamkeit zwischen Kulturen und Religionen war vielerorts spürbar auf dem Katholikentag. Der Leipziger Rabbiner Zsolt Balla gibt in der Synagoge seine ganz persönliche Antwort auf die Frage nach Gemeinsamkeit. »Frag den Rabbiner« heißt der Programmpunkt auf dem Katholikentag, und schon am Eingang wird klar, dass etliche der neugierigen Besucher der Einladung mit wenig Wissen gefolgt sind. Mehrere männliche Gäste sind ohne Kopfbedeckung gekommen. Der Rabbiner bittet sie, zumindest eine Mütze zu tragen, sieht dann aber doch wohlwollend über unbedeckte Köpfe hinweg.
Zsolt Balla ist in Ungarn geboren, hat in Berlin an einer klassisch orthodoxen Rabbinerschule studiert und ist seit 2010 Gemeinderabbiner in Leipzig. Ein charmanter Redner mit mächtigem Stimmvolumen. Ein Junge will wissen, wer das Judentum »erfunden« hat. Balla erzählt von Abraham, Moses und dem jüdischen Volk, und er erklärt, dass es keinen »Erfinder« gibt. Er ermuntert dazu, weitere Fragen zu stellen. Ohne Tabus.
Eine ältere Frau fragt nach der Zusammenarbeit mit den christlichen Kirchen. »Wir haben eine starke und gute Zusammenarbeit«, sagt Balla. »Wir sind dafür sehr dankbar.« Beide christlichen Kirchen hätten beim Aufbau der Gemeinde sehr geholfen, als sie nur noch wenige Mitglieder hatte – bevor neue Mitglieder aus Osteuropa kamen. Gemeinsam mit einem Pfarrer gebe er zum Beispiel an der Uni eine Einführung ins Judentum.
Als der Rabbiner jedoch erklärt, dass er als orthodoxer Jude nicht an einem christlichen Gottesdienst teilnehmen könne, haken einige Besucher irritiert nach. Ist der Ort das Problem? Ist etwa Intoleranz sein Motiv? »Was für mich verboten ist, kann für Sie erlaubt sein«, antwortet Balla. Ein katholischer Gast erzählt daraufhin von seinem jüdischen Vater und schließt mit einem Plädoyer für Gemeinsamkeit: »Vielleicht sollten wir nicht so sehr auf das gucken, was uns trennt. Wir haben doch fast die gleichen Gene.«
Theologie Balla könnte es sich jetzt leicht machen, auf Gemeinsamkeiten verweisen und Konsens herstellen – ein jüdisch-katholischer Schulterschluss quasi. Stattdessen sagt er: »Nein, wir sind unterschiedlich im Glauben. Unsere Theologie ist exklusiv. Obwohl wir vom gleichen Ursprung sind, glauben wir anders. Unterschiedlichkeit ist okay. Es ist wahre Toleranz, das zu akzeptieren.« Balla erklärt, dass das Judentum nicht missioniert. Er glaube, die Welt sei besser mit guten Nichtjuden als mit schlechten Juden.
Die Fragestunde beim Rabbiner ist ein erstes Kennenlernen, eher noch ein Herantasten an Unbekanntes. Viele Wissenslücken kann der Rabbiner schließen. Aber nicht jede Sehnsucht nach Übereinkunft will er erfüllen.
Die interreligiöse Debatte soll beim nächsten Katholikentag noch intensiver geführt werden als in Leipzig. Aber schon diesmal konnten die Besucher nicht nur Fragen zum Judentum stellen, sondern auch eine sinnliche Ahnung von der Schönheit des Judentums bekommen. Und von seiner Eigenart.
gottesdienst Freitagabend. In der Synagoge nehmen nebeneinander Juden und katholische Gäste im Gebetsraum Platz. Die männlichen Katholiken tragen Basecaps und Hüte, die Frauen sitzen getrennt von den Männern auf einer Empore. Als Rabbiner Balla zu sprechen beginnt, drehen sich einige Gäste suchend um, als suchten sie die Kirchenorgel.
Eine Stunde lang hören sie danach andächtig unbekannten Gesängen und Gebeten zu, versuchen, sich im richtigen Moment zu erheben und wieder zu setzen. Sie lassen sich von der Stimme des Rabbiners in eine ihnen unbekannte Religiosität tragen, die sie beim Hinausgehen als »urtümlich«, »männlich«, »beeindruckend«, »meditativ«, »fremd« und »feierlich« beschreiben.
Rabbiner Zsolt Balla dankt für ihren Besuch. Die Frauen und Männer ziehen weiter zu Open-Air-Bühnen, wo gesungen, gebetet, diskutiert und getanzt wird. Der Rabbiner schließt das Tor hinter sich. Es ist Schabbat.