Frankfurt/Main

Zedaka und Bürgersinn

Wie jüdisches Mäzenatentum die Gründung der Goethe-Universität 1914 ermöglichte

von Salomon Korn  28.10.2014 21:44 Uhr

Gründungsurkunde der Frankfurter Universität aus dem Jahr 1914 Foto: dpa

Wie jüdisches Mäzenatentum die Gründung der Goethe-Universität 1914 ermöglichte

von Salomon Korn  28.10.2014 21:44 Uhr

Nur 69 Jahre liegen zwischen der vollständigen rechtlichen Gleichstellung der Juden in Frankfurt am Main im Jahr 1864 und dem unerbittlichen, radikalen Vorgehen der Frankfurter Stadtregierung gegenüber ihren jüdischen Bürgern im Frühjahr 1933. Jahre, in denen sich Frankfurt von der ehrwürdigen Reichsstadt zu einer modernen Großstadt entwickelte und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine im Deutschen Reich beispiellose Blütezeit erlebte.

Verzweifelt und voller Sorge erinnerte der Vorstand der Jüdischen Gemeinde die Mitglieder am 30. März 1933, zwei Tage vor dem sogenannten »Judenboykott«, in einem Offenen Brief an den Beitrag so vieler Gemeindemitglieder zum wirtschaftlichen Wachstum der Stadt: »Wenn keine Stimme sich für uns erhebt, so mögen die Steine dieser Stadt für uns zeugen, die ihren Aufschwung zu einem guten Teil jüdischer Leistung verdankt, in der so viele Einrichtungen vom Gemeinsinn der Juden künden, in der aber auch das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern besonders eng gewesen ist. Verzagt nicht! Schließt die Reihen!«

ghetto Ja, viele städtische Institutionen waren in den Jahrzehnten zuvor von jüdischen Frankfurter Bürgern teilweise oder vollständig finanziert worden. Bis 1906 wuchs ihr Beitrag zu Stiftungen, Vereinen und sonstigen Einrichtungen auf 20 Millionen Mark an. Mithilfe dieser Spenden waren Netzwerke der sozialen Fürsorge, der Bildung, Kunst und medizinischen Grundversorgung entstanden.

Und natürlich hatten sich zahlreiche Freundschaften, menschliche Bindungen und vertrauensvolle Geschäftsbeziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Frankfurtern entwickelt. Besonders eng, wie von dem Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde charakterisiert, oder gar krisenfest war das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden jedoch zu keinem Zeitpunkt.

Frankfurt war Messestadt, europäischer Verkehrsknotenpunkt, die Stadt der Königswahl und der Kaiserkrönung. Vor allem aber war sie eine bürgerlich geprägte Stadt. Selbstbewusst traten die Frankfurter schon im Mittelalter für die Reichsunmittelbarkeit ihrer Stadt ein, setzten sich politisch immer wieder gegenüber dem Rat der Stadt durch und entwickelten Frankfurt zum wichtigen Handelsplatz.

Alle Weltläufigkeit der Frankfurter Bürger endete jedoch an den Toren des Ghettos, der »Judengasse«. Ein nach Frankfurt entsandter liberaler Beamter, der mit der Ausarbeitung der neuen »Stättigkeitsordnung für die Juden« befasst war, schilderte 1807 seinen Eindruck von der Situation der Frankfurter Juden: »(…) kaum irgendwo in Deutschland (herrschte) ein weniger liberaler Geist, und dagegen mehr Vorurtheil (…) unter den höheren Ständen, ja selbst unter der Magistratur, als zu Frankfurt.«

Die Restriktionen und die von Enge und Armut geprägten Lebensumstände in dem von Johann Wolfgang von Goethe so abfällig beschriebenen Ghetto erzwangen den Aufbau eigener Strukturen der Fürsorge. Not und religiöse Pflicht griffen ineinander: Die Notwendigkeit, die Bedürftigen, Alten und Kranken zu versorgen, erhielt durch die im Judentum verankerte Pflicht zur Wohltätigkeit, der Zedaka, einen besonders hohen Stellenwert.

Das gut funktionierende soziale Netz der jüdischen Gemeinde stieß jedoch in Krisenzeiten an seine Grenzen. Ohne kontinuierliches finanzielles Engagement aus privater Hand wäre die soziale und medizinische Fürsorge innerhalb des Ghettos nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Private Stiftungen, Schenkungen und Vermächtnisse entlasteten seit dem 18. Jahrhundert die Gemeindekasse. Innerhalb Frankfurts existierte nunmehr eine Parallelstruktur im Sozialwesen. Neben die seit dem Mittelalter bestehenden christlichen Armenstiftungen traten jetzt erste Stiftungen von jüdischen Bürgern, wie die der Familie Rothschild.

stiftungsboom Auf lange Sicht verdankte die Frankfurter Universität ihre Entstehung der Überwindung dieser Parallelstruktur, dem stark anziehenden Ausbau der städtischen Wohlfahrtspflege und dem jüdischen Bildungsanspruch. Ausdruck dessen war der regelrechte Gründungsboom im Bereich der Stiftungen, den der Fall der Ghettomauern und die schrittweise bürgerliche Emanzipation der Frankfurter Juden nach sich zogen. Es war eine vergleichsweise kleine Gruppe sehr vermögender Bürgerinnen und Bürger aus zumeist alteingesessenen jüdischen Frankfurter Familien, die mit großzügigen Zuwendungen das Stiftungswesen ausbauten.

Diese Philanthropen und Humanisten werden in weiten Teilen der wissenschaftlichen Literatur wie im allgemeinen Sprachgebrauch als »jüdische Stifter« bezeichnet. Die Mehrheit dieser Persönlichkeiten hätte diese Bezeichnung wahrscheinlich abgelehnt. Erst recht, wenn sie damals geahnt hätten, dass das Adjektiv »jüdisch« wenige Jahrzehnte später von den Nationalsozialisten missbraucht werden würde, um sie selbst und ihre Nachkommen auf Grundlage der Nürnberger Gesetze einer menschenverachtenden Klassifikation zu unterziehen.

In vielen Fällen ist diese Einordnung aber auch schon lange vor 1933 schlicht falsch, weil die so Benannten teils getauft, teils nicht religiös oder auch aus jüdischer Sicht gar nicht jüdischer Abstammung waren. Nicht die jüdischen Wurzeln waren die herausragende Gemeinsamkeit der Stifterpersönlichkeiten und Unterstützer der Frankfurter Universität, sondern ihr tiefempfundenes Heimatgefühl. Sie empfanden sich als Deutsche, noch stärker jedoch als stolze, loyale Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt am Main.

merton Einer dieser Mäzene verdient mit Blick auf die Gründung der Universität besondere Erwähnung. Gemeint ist der in Frankfurt geborene, väterlicherseits in England verwurzelte Konzernlenker Wilhelm Merton, Gründer der weltweit vernetzten Metallgesellschaft. Der 1899 zum Protestantismus übergetretene Merton hatte bereits 1890 das schon legendäre »Institut für Gemeinwohl«, die Keimzelle der späteren Universität, gegründet. Merton war durch und durch Geschäftsmann. Zugleich verfolgte er mit Sorge die gesellschaftlichen Folgen der mit Macht voranschreitenden Industrialisierung. Anstatt jedoch noch größere Summen seines enormen Vermögens in noch mehr wohltätige Einrichtungen zu investieren, suchte Merton nach Antworten auf die sich immer drängender stellende soziale Frage.

Es ist dieser sozialreformerische Aspekt, der die Entstehungsgeschichte der Frankfurter Hochschule so einzigartig in der deutschen Universitätsgeschichte macht. Hintergrund war die Analyse Wilhelm Mertons, dass die gerade in Frankfurt so zahlreich vorhandenen sozialen Einrichtungen nicht effektiv arbeiteten. Es war der entlarvende Blick des erfolgreichen Unternehmers auf das von sozial engagierten Privatleuten, ehrenamtlichen Helfern und akademisch gebildeten Freiberuflern geschaffene Sozialwesen.

Erstes sichtbares Ergebnis war die 1901 vollzogene Umwandlung und Erweiterung des »Instituts für Gemeinwohl« in die »Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften«. Gegenüber Zeitgenossen erläuterte Merton, was er sich von dem neuen Lehrinstitut versprach. Ihm gehe es »um die Herausbildung sozial und wirtschaftlich geschulter Männer, die in ihrem Berufe in erster Linie praktisch, dann aber durch Wort und Schrift daran arbeiten, dass unsere Gewerbetreibenden sozial, unsere Sozialpolitiker ökonomisch denken lernen«.

Die spätere Gründung der Universität erscheint vor diesem Hintergrund folgerichtig, ja zwingend, um die Effizienz des Stiftungs- und Institutswesens zusätzlich zu steigern. Merton und Franz Adickes, seit 1890 Frankfurts Oberbürgermeister, stimmten darin überein, dass eine nachhaltige Optimierung des Sozialwesens nur durch die Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten für akademisch geschultes Fachpersonal zu erreichen sein würde. Mehr als das.

Frankfurt sollte eine moderne, liberale Universität mit einem unverwechselbaren Profil erhalten – dank privater Stiftungsgelder unabhängig von staatlichen Zuschüssen und damit verbundener Einmischung; durch den Verzicht auf eine theologische Fakultät Studierenden und Dozenten aller Religionen offenstehend und ausdrücklich jüdischen Bewerbern die Chance auf einen Lehrstuhl ermöglichend: der Entwurf einer freien, dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichteten Universität für die Stadt Frankfurt.

Der komplexe Entstehungsprozess der Universität ist auch in demokratiegeschichtlicher Hinsicht interessant. Ob wohltätige Einrichtung, Kulturstiftung oder Bildungsinstitut, immer verband sich die Investition in eine Stiftung mit dem Anliegen, bürgerliche Werte zu vermitteln und zur Stärkung der Zivilgesellschaft beizutragen.

Daran mussten gesellschaftlich weiterhin benachteiligte Gruppen wie die jüdischen Bürger ein hohes Interesse haben. Eine Karriere in der Politik, der Verwaltung oder einer Hochschule blieb für sie auch bei noch so großer Einsatzbereitschaft und nachgewiesener Eignung die absolute Ausnahme. Das Engagement im Bereich des Stiftungswesens half, die schrittweise Integration in die städtische Oberschicht und die verschiedenen Kommunikationsnetzwerke trotz dieser demütigenden Situation voranzubringen.

enttäuschung Und doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gründungsprozess der schon bald als »Judenuniversität« verschrienen Hochschule auch von der Vergeblichkeit des Ringens um volle Anerkennung erzählt.

Der Frankfurter Arzt Richard Koch erinnerte sich noch gut an die Enttäuschung, die sein Großvater angesichts dieser Atmosphäre empfunden hatte: »Er hatte aus nächster Nähe den Kampf um die Emanzipation miterlebt, der vielleicht nirgends in Deutschland mit solcher Zähigkeit von beiden Seiten gekämpft wurde wie gerade in Frankfurt. (…) Aber die Widerstände waren nicht gebrochen. Die Feindschaft glimmte wie ein unterirdisches Feuer weiter, und wer sich nicht blind machte, musste sehen, wie bald da, wie bald dort eine giftige Flamme aufzüngelte.«

Die giftige Flamme weitete sich aus zum Flächenbrand, zum Massenmord an Millionen unschuldiger Menschen. In der Vorhalle des Alten Jüdischen Friedhofs an der Rat-Beil-Straße erinnern noch etwa 100 Stiftertafeln an die Frankfurter Mäzene und Wohltäter von einst. Ihre Stiftungen wurden in den Jahren nach 1933 aufgelöst oder mit christlichen zusammengelegt, jüdische Straßennamen beseitigt. Bei Weitem nicht alle Stifter hatten das Glück, ihre geliebte Heimatstadt rechtzeitig vor der Deportation verlassen zu können oder früh genug eines natürlichen Todes zu sterben.

Das Stifterehepaar Moritz Nathan Oppenheim und seine Frau Katharina verweigerten sich der Demütigung durch die Nationalsozialisten. »Sie wollten«, so schrieb ihr einziger Sohn Paul später, »voller Würde dem Versuch entgehen, sie als Menschen minderen Grades zu brandmarken«. Am 9. Juni 1933 schieden seine Eltern freiwillig gemeinsam aus dem Leben.

Der Autor ist Vorsitzender des Kuratoriums der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Auszüge aus seinem Vortrag am 21. Oktober an der HfJS

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