Horst Selbiger atmet tief ein, schaut an die Decke und überlegt kurz: »Ja, wie hat das mein Leben geprägt?« Die Frage der vier Schülerinnen der Sophie-Scholl-Schule versetzt den 84-Jährigen für einen kurzen Augenblick zurück auf den Hof seiner Grundschule. »Ich wurde als Jude angespuckt, die anderen Kinder wollten nicht mit mir spielen – und das prägt.«
Die Schülerinnen der elften Klasse schlucken. Noëlle, Karla, Magdalena und Paula sehen Horst Selbiger zwar nicht zum ersten Mal – schon zuvor hatten sie ihn im Geschichtsunterricht einem fast dreistündigen Gespräch kennengelernt. Trotzdem sind sie immer wieder »sehr beeindruckt«, was der ältere Herr, der übrigens ähnliche Turnschuhe trägt wie die Mitschüler von Noëlle und Magdalena, ihnen Erschütterndes erzählt.
Transportnummer Selbiger, der am 27. Februar 1943 bei der sogenannten Fabrikaktion verhaftet wurde, erzählte den Schülerinnen, wie er diese Zeit als damals 15-Jähriger miterlebt hatte. »Wir kamen zuerst in die Synagoge in der Lewetzowstraße, und dort erhielten wir eine Transportnummer für Auschwitz um den Hals gehängt.« Da wusste er, dass »es in die Vernichtung ging«.
Doch als die Angehörigen erfuhren, dass ihre Männer und Söhne von der Lewetzowstraße in das Gebäude der jüdischen Sozialverwaltung in die Rosenstraße gebracht wurden, »sprach es sich herum wie ein Lauffeuer«, erzählt Selbiger. Die Ehefrauen und Mütter versammelten sich vor dem Haus unweit des Alexanderplatzes und demonstrierten tagelang für die Freilassung ihrer Angehörigen.
Mahnmal Um daran zu erinnern, wurde am Donnerstagnachmittag eine Gedenkstunde vor Ort abgehalten. Vom Mahnmal in der Großen Hamburger Straße ging es in einem Schweigemarsch in die Rosenstraße. Dort wurden die Litfaßsäulen, die gerade renoviert wurden, eingeweiht: »Der Protest bleibt für immer ein mutiges Dokument des Widerstands in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors«, betonte der Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, Andreas Nachama.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, sagte: »Wir gedenken heute eines Wunders: die einzige bekannte Demonstration während der Nazidiktatur, die zur Freilassung von Juden geführt hat.« Dieses Wunder hätten engagierte Berlinerinnen und Berliner vollbracht, sagte Joffe.
Die allerdings waren laut Selbiger eine Ausnahme. Die meisten Menschen hätten gleichgültig reagiert. »Es gab vielleicht den einen oder anderen, der uns heimlich ein paar Stullen zugesteckt hatte«, aber im Großen und Ganzen gab es von der Bevölkerung bis zu der Demonstration keine Unterstützung.
»Wir waren als Kinder schon erwachsener als die Erwachsenen«, sagt er zum Erstaunen der vier Schülerinnen, die während des Gesprächs spürbar angespannt bleiben. »Es ist so spannend, Herrn Selbiger zuzuhören«, sagt Noëlle. Viel interessanter als allein darüber im Geschichtsbuch zu lesen.