München

Worte sind nicht genug

Die brennende Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße, der tobende Mob in den Straßen Münchens, zerstörte und geplünderte Geschäfte, misshandelte jüdische Menschen: Diese Bilder, die den Beginn des Holocaust markieren, haben sich unauslöschlich in das Gedächtnis von Charlotte Knobloch eingegraben.

Auf den Tag genau 80 Jahre später steht die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) im Saal des Alten Rathauses am Rednerpult und stellt sich und den vielen prominenten Gästen die Frage, wie es möglich ist, dass Antisemitismus heute wieder eine Basis in der Gesellschaft gefunden hat.

Charlotte Knobloch erinnerte in ihrer Rede daran, dass das »Nie wieder!« das Fundament darstellt, auf dem die Bundesrepublik nur wenige Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus gegründet wurde. Aus den beiden Worten, so die Präsidentin der IKG, sei die Überzeugung abzuleiten, dass »die Menschenwürde die beste, die wichtigste und im Zweifel die einzige Richtschnur staatlichen Handelns ist und bleiben muss«.

versprechen Das »Nie wieder!«, stellte sie fest, habe das Versprechen an ihre und die nachfolgenden Generationen beinhaltet, dass die jüdische Gemeinschaft nie wieder im Stich gelassen werde und nie wieder die Angst und Hilflosigkeit von damals durchleiden müsse. Die Realität, so fügte Charlotte Knobloch hinzu, sei jedoch eine andere. Wer sich heute in der jüdischen Gemeinde umhöre, der werde ebendiese Angst vorfinden. »Angst vor dem Judenhass gehört heute zum jüdischen Leben in Deutschland wieder dazu«, erklärte sie und stellte die Frage: »Wie kann das sein?«

Selbstverständlich hätten Staat und Gesellschaft sehr viel getan, um jüdisches Leben zu schützen und zu fördern. Aber Charlotte Knobloch merkte einschränkend an: »Bis heute – und das allen Versprechungen zum Trotz – wird Antisemitismus oft kleingeredet, geleugnet, relativiert. Er wird erklärt als Witz, als Missverständnis, als Überempfindlichkeit, als besondere musikalische Kunstform oder als ›Israelkritik‹.« Auch wenn die Lage nicht direkt mit der von 1938 vergleichbar sei, sei die Tatsache erschreckend, wieder an diesem Punkt zu stehen.

»Der Kern des Problems«, so die IKG-Präsidentin, »ist die Dauerhaftigkeit des Judenhasses, der immer noch präsent ist.« Besonders erschreckend ist den Worten der IKG-Präsidentin zufolge, dass sich der Judenhass auch wieder in einer politischen Partei manifestiert, die sich inzwischen in allen Parlamenten festgesetzt habe und gerade keine Alternative sei. »In ihr und mit ihr«, stellte sie fest, »hat Antisemitismus erneut eine politische und gesellschaftliche Heimat gefunden.«

sicherheit Charlotte Knobloch machte in ihrer beeindruckenden Rede deutlich, dass Juden keine besondere Behandlung und kein Mitleid wollten. »Alles, was wir wollen«, sagte sie, »ist, in diesem – unserem – Land in Freiheit und Sicherheit zu leben, so wie jeder andere auch.« Diese Perspektive, die an vielen Stellen in der Gesellschaft fehle, sei nicht nur für die jüdische Gemeinschaft von großer Bedeutung, sondern für alle Menschen. Judenhass, betonte die IKG-Präsidentin, sei kein Problem der Juden.

»Jüdische Menschen mögen die Ersten sein, die seine Auswirkungen spüren, aber sie sind ganz sicher nicht die Letzten. Wo jüdisches Leben ohne Angst nicht möglich ist, da liegt etwas Grundsätzliches im Argen«, analysierte Knob­loch. Klar müsse jetzt sein, dass gegen Antisemitismus nur noch Taten helfen. Worte allein seien nicht genug.

An der zentralen Gedenkfeier im Alten Rathaus, jenem Ort, an dem Hitlers Reichs­propagandaminister Joseph Goeb­bels vor der versammelten Nazi-»Elite« mit einer beispiellosen Hetzrede das Tor zu Auschwitz aufgestoßen hatte, nahmen auch zahlreiche Repräsentanten des öffentlichen Lebens teil.

taten Den Weg zum Ort schmerzlicher Erinnerung im Herzen der Stadt München hatte auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gefunden. Er bezeichnete es in seiner Rede als »Herzensangelegenheit«, alles dafür zu tun, dass Juden in Bayern frei von Angst leben könnten. »Wir haben heute die Verantwortung, uns Hass und Gewalt mit Worten und Taten entgegenzustellen«, erklärte er.

Dass antisemitische Ressentiments und Denkmuster wieder an der Tagesordnung seien, bedrückt auch Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter. Die Bekämpfung von Antisemitismus dürfe nicht allein jüdischen Menschen zufallen.

»Es ist nicht die Aufgabe der Leitragenden von Hass, Hetze und Gewalt, die Mehrheitsgesellschaft für ihren Schutz zu mobilisieren. Vielmehr ist es die Aufgabe jeder aufmerksamen, verantwortungsbewussten und demokratischen Stadtgesellschaft, von sich aus gegen Antisemitismus aufzustehen und sich solidarisch an die Seite jüdischer Menschen zu stellen«, erklärte er.

bilanz Reiter erinnerte in diesem Zusammenhang an die Untätigkeit vieler Menschen, die eine Ursache dafür gewesen sei, dass die Gewalt der Pogromnacht von 1938 solche Ausmaße annehmen konnte. »Anstatt einzugreifen, haben die Münchner damals einfach nur zugeschaut, bisweilen zugestimmt oder im schlimmsten Fall sogar mitgemacht«, zog er eine bittere Bilanz der damaligen Geschehnisse und zeigte Parallelen zur Gegenwart auf. »Es ist eine Schande für unser Land, dass jüdischen Menschen aus Angst vor Übergriffen zum Tragen einer Basecap statt einer Kippa geraten werden muss.«

Die Untätigkeit vieler war Ursache für das Ausmaß der Gewalt.
Antisemitismus müsse in all seinen Erscheinungsformen bekämpft werden. »Egal, wie er daherkommt, ob von rechtsaußen als rassistisch und völkisch aufgeladener Judenhass, ob als obskure Verschwörungstheorie eines Weltjudentums, ob als Relativierung von NS-Verbrechen oder geleitet von antiisraelischen Ressentiments«, erklärte er.

Neben der Gedenkfeier im Alten Rathaus thematisierte eine Vielzahl von Veranstaltungen den »9. November 1938«. Dazu zählte beispielsweise auch das »Zeitzeugenforum«, das für Schulklassen konzipiert wurde und vor der Gedenkfeier im Großen Sitzungssaal des Neuen Rathauses stattfand. Die drei Holocaust-Überlebenden Hanna Zimmermann, Ruth Melcer und IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch schilderten ihre Erfahrungen in der NS-Zeit und stellten sich den Fragen der Schüler.

namenslesung Am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße wurden am Morgen die Namen und Biografien von jüdischen Münchnern verlesen, die im November 1938 ins Konzentrationslager Dachau verschleppt worden waren.

Zu den Lesern gehörten unter anderem Polizeipräsident Hubertus Andrä, Karl Freller, Direktor der Stiftung Baye­rische Gedenkstätten, Miriam Heigl, die Leiterin der städtischen Fachstelle für Demokratie, die Vorsitzende der Weißen-Rose-Stiftung, Hildegard Kronawitter, Kulturreferent Hans-Georg Küppers, der Vorsitzende des Politischen Beirats im NS-Dokumentationszentrum, Marian Offman, Petra Reiter und die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums, Mirjam Zadoff.

Eröffnet wurde das Gedenken am Vorabend des 9. November mit einer Licht­installation des Künstlers Georg Soanca-Pollak. Er projizierte die Namen verfolgter und ermordeter Münchner Juden auf die Fassade der Ohel-Jakob-Synagoge.

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