Ich wusste gar nicht, dass auch strenggläubige Jüdinnen ihr Haar gemäß religiöser Vorschrift bedecken», sagt Inge Breitensträter. «Da habe ich ja schon wieder etwas gelernt!» Die 62-jährige Berlinerin sitzt im Großen Saal der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße. In der rechten Hand hält sie einen akkurat gespitzten Bleistift, in der linken ein gelbes Notizheft. «Damit ich mir gleich alles Wichtige aufschreiben kann», sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann verfolgt Breitensträter aufmerksam die Ausführungen von Kübra Özermis und Rebecca de Vries.
workshop Die beiden Studentinnen von dem muslimisch-jüdischen Verein «Jadaayel» sprechen über die Bedeutung der weiblichen Kopfbedeckung in der islamischen und jüdischen Tradition und darüber, was sie mit Glauben und Gott zu tun hat – ein Thema, das offenbar nicht nur bei Familie Breitensträter auf Interesse stieß. Die Stuhlreihen im Saal waren gut gefüllt, das Publikum – Juden und Nichtjuden –, darunter auffällig viele junge Besucher, war bunt gemischt. Einige brachten mehr Vorkenntnisse mit, andere weniger.
Im Zentrum der muslimisch-jüdischen Diskussion stand die Frage, ob Kopftuch und Scheitel – das Tuch oder die Perücke für orthodoxe Jüdinnen – Ausdruck patriarchaler Machokultur oder vielmehr Zeichen weiblich-religiöser Selbstbehauptung sind. «Wenn man an Gott glaubt und sich mit dem Islam verbunden fühlt, trägt man als Muslimin ein Kopftuch. Das passiert aus eigener Überzeugung heraus und nicht, weil man dazu gezwungen wird», erklärt Kübra Özermis, die ein Kopftuch trägt, seit sie in die siebte Klasse geht.
Die Workshop-Teilnehmer hatten dazu durchaus andere Meinungen. «Ich verstehe nicht, was eine Kopfbedeckung mit dem Glauben an Gott zu tun hat – egal, ob man jüdisch oder muslimisch ist. Männer müssen ja auch nicht ihr Haar verbergen», meinte ein Teilnehmer. Auch Inge Breitensträter ist skeptisch: «Soweit ich weiß, gibt es im Koran gar kein Kopftuchgebot. Es ist vielmehr eine kulturelle Tradition.»
debatten Der Kopftuch-Workshop mit seiner kontroversen Debatte war ein Beispiel für die Vielzahl der Veranstaltungen an diesem späten Abend am vergangenen Mittwoch im Centrum Judaicum. Die Stiftung in Mitte hatte ihre Pforten für die «Laila Lawan» geöffnet – eine lange Nacht des Lernens kurz vor dem jüdischen Wochenfest Schawuot und zugleich Auftaktveranstaltung für die «6. Lange Nacht der Religionen».
Dafür hatten die Veranstalter zahlreiche jüdische Organisationen verschiedener religiöser Ausrichtungen eingeladen, in ihren Räumen Diskussionsrunden zu organisieren, darunter die Gemeindesynagogen Oranienburger Straße, Fraenkelufer und Sukkat Schalom, das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk und die Berliner Studierendeninitiative Studentim. «Das Centrum Judaicum hat ganz eindeutig ein Mandat gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit», betonte Stiftungsdirektorin Anja Siegemund. «Wir wollen vermitteln: in diesem Fall Themen und Sichtweisen von jüdischen Organisationen», begründete sie den Ansatz.
idee Die Idee für eine «Lange Nacht des Lernens», die in dieser Form zum ersten Mal im Centrum Judaicum stattfand, hat Siegemund aus Israel mitgebracht. Die Historikerin leitete viele Jahre das Leo-Baeck-Institut in Jerusalem, bevor sie im Herbst 2015 zur Direktorin des Centrums berufen wurde. «›Laila Lawan‹ bedeutet in Israel ›Weiße Nacht‹, die man mit Darbietungen, Diskussionen und Musik durchmacht. Wir verschränken mit unserer Version der ›Laila Lawan‹ die Tradition des Tikkun Leil Schawuot und den Anspruch, anderen jüdischen Gruppierungen ein Forum zu geben», sagte Siegemund.
Dass es bei der Lernnacht kein übergreifendes Thema gab, entsprach dabei ganz diesem Anspruch. Das verbindende Motto aller Veranstaltungen war vielmehr die Leitidee, sich durch Diskussionen und Austausch gemeinsam Neues zu verschiedenen Themen zu erschließen.
Dementsprechend facettenreich war das Veranstaltungsangebot an Workshops und Vorträgen der teilnehmenden jüdischen Organisationen. Auf dem Programm stand unter anderem ein von dem Pädagogen Micha Brumlik geleiteter Workshop zur Politischen Theorie des Talmuds. Das jüdische Frauennetzwerk Bet Debora diskutierte die aktuelle Relevanz einer jüdischen Feminismusbewegung, während parallel dazu Rabbiner Nils Ederberg die Bedeutung interreligiöser Kontakte für die jüdische Gemeinschaft beleuchtete.
expats Außerdem zeigte die von israelischen Expats gegründete Organisation «Habait» die Dokumentation The Tourguide, in der das Leben von Nirit Ben Joseph, einer in Berlin lebenden und als Stadtführerin arbeitenden Israelin, vorgestellt wird.
Im Anschluss daran diskutierte Ben Joseph zusammen mit der Habait-Mitgründerin Nirit Bialer und Stiftungsdirektorin Anja Siegemund die Lebenswelten und Identitäten von Israelis in Berlin – ein Gespräch, das sich auch Inge Breitensträter nicht entgehen ließ. «Mich interessiert schon lange, was so viele junge Israelis nach Berlin zieht», sagte sie. Das Konzept der Lernnacht fand sie «sehr gelungen». «So viele spannende Veranstaltungen an einem Abend! Schade nur, dass man nicht überall hingehen kann», meinte die Berlinerin, die in Zukunft häufiger an Veranstaltungen im Centrum Judaicum teilnehmen möchte.
ziel Auch Stiftungsdirektorin Siegemund zeigte sich spät in der Nacht mit dem Format zufrieden. «Die Konzeption, zu lernen, Texte zu diskutieren und wirklich einmal ein kleines Stück in die Tiefe zu gehen, wurde ernst genommen», sagt Siegemund. Auch die Rückmeldungen der Workshop-Leiter seien überaus positiv gewesen. «Die beteiligten Gruppierungen wären vorher gar nicht auf die Idee gekommen, mit und bei uns etwas anzubieten – sie nehmen das Centrum eher als eine der etablierten Einrichtungen wahr», meinte Siegemund.
Diese Wahrnehmung zu durchbrechen und das Centrum Judaicum als eine kulturelle Einrichtung zu präsentieren, die offen für alle ist und auch für alle Interessengruppen Angebote bereithält, war ebenfalls ein Ziel der «Weißen Nacht». Auch in diesem Sinne war die Lernnacht ein Erfolg. Anja Siegemund kann sich nun vorstellen, das Format auch im nächsten Jahr wieder anzubieten.