9. Mai

»Wir werden immer weniger«

Als Semjon Kleyman zu seiner Rede ansetzt, verstummt das Stimmengewirr im Saal nicht sofort. Die knapp zwei Dutzend Frauen und Männer, die sich bei Kaffee und Kuchen im Jüdischen Gemeindehaus treffen, sind zwar rüstig, aber eben auch erkennbar alt. Und so dauert es einige Minuten, bis Kleymann die volle Aufmerksamkeit und das Gehör der Veteraninnen und Veteranen hat – die Frauen sind in diesem hohen Alter deutlich in der Überzahl.

Semjon Kleymann, der Ende Mai 90 Jahre alt wird, ist neuer Vorsitzender des Klubs der Kriegsveteranen, seit dessen langjähriger Vorsitzender Jakov Reznik das Amt aus Altersgründen niederlegte. Kleymann verschweigt nicht: »Auch ich bin krank.« Aber die Treffen alle zwei Wochen bedeuten ihm viel, und so gibt er sich kämpferisch: »Ich gebe alle meine Kräfte für unseren Klub.«

Und da es Jahr für Jahr weniger werden, die noch kommen können, hat der Klub sich geöffnet: Neben Soldaten der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg umfasst er nun auch Ghetto-Überlebende, Arbeiterinnen aus dem Hinterland und Überlebende der Blockade von Leningrad.

Vielleicht wichtiger noch als der obligatorische Vortrag ist für die Veteranen die Verleihung von Medaillen aus Israel an vier von ihnen. Eine davon übergibt Kleymann an Miron Sucholuzki, Jahrgang 1922. Sucholuzki ist eine gewisse Routine anzumerken: »Ich habe vier Kampfauszeichnungen erhalten, die Medaillen zähle ich schon nicht mehr.« Und dennoch ist er stolz und gerührt, während er die neue Medaille mit den hebräischen Schriftzeichen hochhält: »Diese hier ist aus Israel, sie ist mir besonders wichtig.«

front Routiniert erzählt Sucholuzki, der vielleicht älteste der Berliner Veteranen, auch seine Geschichte, die ihn aus dem ukrainischen Dorf Hornostaipil – in der Nähe des späteren Unglücksreaktors Tschernobyl – zunächst zur Berufsausbildung und zur Arbeit in einer Schuhfabrik nach Kiew führte.

Dann der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Jahre 1941, die Evakuierung nach Omsk, die Militärausbildung, Kämpfe an der westlichen Front, bei Moskau, Smolensk, in Weißrussland, im Baltikum. Daten von Schlachten, militärische Rangbezeichnungen, Nummern seiner Einheiten: Sucholuzki zählt sie langsam und mit deutlicher Stimme auf, wie er es schon viele Male zuvor getan hat. Er hat auch nach dem Krieg noch in der Armee gedient, war insgesamt 26 Jahre beim Militär. Sein Auftreten ist beherrscht und würdevoll, doch an einer Stelle kommt seine Erzählung ins Stocken, ringt er innerlich um Fassung: »Nach der Besatzung der Ukraine blieben meine Mutter, zwei Brüder und die Schwester in Hornostaipil zurück.«

Ein »kleines Babi Jar« sei es gewesen, was die deutschen Besatzer dort anrichteten: »Alle Juden in Hornostaipil wurden sofort … Nach der Besatzung wurden sie erschossen.« Sucholuzki ist einen Moment lang ganz in sich versunken, um das Gespräch mit einer nüchternen Feststellung wiederaufzunehmen: »Das war im Oktober 1941.« Sucholuzki wurde 1943 schwer verwundet, doch er überlebte: »Der jugendliche Organismus hat es irgendwie überwunden.« Seit 1990 lebt der Veteran in Deutschland, seine Tochter hat ihn mitgenommen, etwas »improvisiert« sei die Übersiedlung damals gewesen.

Rente Negativ will er sich über den ehemaligen Kriegsgegner jedoch nicht äußern, Deutschland habe ihn gut aufgenommen und sich vom ersten Tag an aufmerksam gezeigt: »Ich habe sofort Sozialhilfe erhalten, eine Rente, nach einiger Zeit die Staatsbürgerschaft.« An Deutschland schätzt der Veteran die Politik der Selbstbegrenzung, der Nichteinmischung in internationale Konflikte. Sucholuzki mag die Kanzler Kohl, Schröder und Merkel, die dafür gesorgt hätten, dass es ruhig sei in Deutschland. Hierzulande begann er auch mit dem Besuch der Synagoge: »In der Sowjetunion haben wir nie die jüdischen Feste gefeiert.«

In die Synagoge geht auch der vier Jahre jüngere Semjon Kleyman regelmäßig, morgens und abends. Auch seine Geschichte beginnt in der heutigen Ukraine, in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Kamenez-Podolski. Nach der Flucht vor den Deutschen und der Zeit im Versteck meldet sich Kleyman mit 17 Jahren freiwillig zum Frontdienst, kämpft in Bulgarien, Jugoslawien, Ungarn, Österreich.

Wie Sucholuzki bleibt auch Kleyman in den Nachkriegsjahren bei der Armee: Bis auf eine Schwester wurde seine gesamte Familie von den Deutschen ermordet. Nach der Armee besucht er die Abendschule, studiert Medizin und wird Arzt in der Westukraine. In Berlin wohnt Kleyman seit 1999. Auch er fühlt sich gut aufgenommen. Fühlt er sich als sowjetischer Veteran in Deutschland anerkannt und respektiert? Kleyman überlegt, erwähnt dann die Deutschen, die er bei Empfängen kennengelernt hat, etwa in der russischen Botschaft: »Das ist eine neue Generation.« Evgenija Schmuschkevitch nickt zustimmend. Als 16-Jährige gelang ihr die Flucht aus dem Wilnaer Ghetto, als Schützin kämpfte sie in der Roten Armee, lernte dort ihren Mann kennen, gründete eine Familie.

Erinnerung Kleyman, Schmuschkevitch und Sucholuzki haben inzwischen Enkel und Urenkel, die erfolgreich in der neuen Heimat leben und arbeiten, oder aber auch in London. »Sie sind Deutsche«, sagt Sucholuzki über seine Enkel. »Aber mit mir sprechen sie Russisch. Ich habe ihnen viel Zeit gewidmet, jetzt helfen sie uns. Zu den Feiertagen gratulieren sie, sie interessieren sich für meine Erinnerungen, sind stolz auf sie.«

Auch Kleyman und Schmuschkevitch haben Enkeln und Urenkeln immer wieder vom Krieg erzählt. »Sie wissen davon und nehmen daran Anteil.« Vor allem aber ist es der Klub der Kriegsveteranen, in dem sie sich zweimal im Monat über ihre Erlebnisse austauschen können, die sie bis heute prägen. Kleyman deutet auf Fotos an der Wand, die ihn und die anderen Veteranen bei feierlichen Anlässen zeigen. Und sagt dann, wie um noch einmal zu bekräftigen, warum er den Vorsitz trotz gesundheitlicher Probleme übernommen hat: »Ich möchte, dass unser Klub lebt.«

Frankfurt/Main

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