Frage den Rabbi: »Ist ein Angebot von 100 koscheren Produkten in einem Meer von mehr als 15.000 Artikeln nicht etwas dürftig?« Und der Rabbi wird antworten: »100 verglichen mit Nichts ist viel.«
Seit Ende Januar bietet Edeka in Hamburg Koscheres. Das Geschäft in der Grindelallee, im Bezirk Eimsbüttel integriert explizit koscher hergestellte Ware ins Sortiment – als womöglich erster Supermarkt zwischen Tel Aviv und New York, mutmaßt Rabbiner Shlomo Bistritzky. »In Deutschland weiß ich von keinem, in Europa auch nicht.«
Jedenfalls ist es der einzige in Hamburg. Angesichts der heterogenen Struktur der jüdischen Bevölkerung in der Stadt – neben der jüdischen Gemeinde existieren die Liberale jüdische Gemeinde und die internationale Organisation Chabad Lubawitsch, der Rabbi Bistritzky angehört – ist es konsequent, den Verkauf koscherer Ware gleich einem Goj zu übertragen. Denn hinter dem Angebot steht nicht der Handelskonzern Edeka. Verantwortlich ist der Kaufmann Sven Anders. Das Geschäft in der Grindelallee, inmitten des früheren jüdischen Viertels gehört ihm im elften Jahr. Anders selbst stammt aus Schleswig-Holstein.
Skepsis Der Rabbiner fragte vorigen November schriftlich an. Der Kaufmann sagte, er sei zunächst skeptisch gewesen: »Macht das Sinn? – Ich war auf blöde Kommentare gefasst.« Man wolle ja die Stammkundschaft nicht verprellen. Andererseits klopft ein Geschäftsmann jede Idee auf ihre Lukrativität ab.
Er habe sich dann informiert über die Struktur im Viertel und im eigenen Laden, erzählt Sven Anders weiter. »Der Rabbiner ging mit mir durch mein Geschäft und sagte: ›Hier ist noch eins!‹. Auf Anhieb zeigte er mir 30 koschere Artikel, die sowieso zum Standardprogramm eines Supermarkts gehören: In den USA hergestellte Cornflakes etwa, Salzgebäck und Kekse.«
Mit einem Mal war »Koscheres bei Edeka« eine Geschäftsidee. Anders schaltete Anzeigen im lokalen Wochenblatt: »Koscheres bei Edeka am Grindel! In Kürze werden wir ein erstes Angebot koscherer Lebensmittel in die Regale stellen. Nicht in einer ›koscheren Ecke‹, sondern dort, wo die Produkte hingehören.« Der Inhaber ließ die Ware mit einem blauen Signet – dem Gütesiegel für koschere Produkte – kennzeichnen, auf jedem Preisschild am Regal klebt ein blauer Punkt.
Angebote Seither bezieht der Supermarkt von Importeuren aus Berlin und Dortmund koscheren Traubensaft und süßen Kidduschwein, trockenen Roten wie Weißen aus Spanien und Israel, Kaffee und Kakao, »Aviv Matzos« und Süßwaren von »Haribo«, aber auch Spezialitäten wie den Sesam-Knoblauch-Dip »Tehina«. »Sehen Sie«, sagt Rabbiner Bistritzky, »das hat gleich drei Koscher-Stempel. Einer ist von meinem Bruder in Israel.« Salzgurken und Hummus gehen derzeit am besten. Bald schon soll koschere Milch, Frischkäse und Joghurt im Regal stehen. Der Rabbiner wünscht sich Tiefkühlfleisch – der Kaufmann bremst. Dafür muss erst Platz geschaffen werden.
Und die blöden Kommentare? »Die gab es nicht.« Die Kundschaft nimmt das Angebot gut an, bei Bedarf werde das Sortiment erweitert.
Wer bislang zuverlässig koschere Waren beziehen wollte, weil er sich nicht nur an Feiertagen gemäß Kaschrut-Vorschriften ernährte, bestellte im Internet. Versuche, Einzelhandelsgeschäfte im Grindel zu etablieren, hat es immer wieder gegeben. In den 90er-Jahren reichte man sich im Viertel die Adresse von Shlomo Almagor weiter – er handelte mit Autoteilen, importierte aber für den eigenen Bedarf auch Lebensmittel. Bald bot er in seiner Wohnung im vierten Stock koscheres Fleisch aus der Kühltruhe zum Verkauf an.
Am Grindelberg hielt sich das 2005 von Dorothee Herkel geführte »Ma’ayan« zwei Jahre lang. Nach 2007 ging das Catering-Unternehmen Samuel Zach probeweise in den Direktverkauf. Als sich das nicht lohnte, richtete Rabbiner Bistritzky in den Räumen seines Vereins eine Verkaufsstelle ein. Es blieb ein Provisorium.
Nun, da das Koschere im Supermarkt angekommen ist, weitet sich womöglich bald schon der Kreis potenzieller Kunden. Die Kaschrut-gerechten Lebensmittel, so sagt man, dienen vor allem der spirituellen Gesundheit.
Akzeptanz Ruben Herzberg, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, begrüßt die Initiative. »Wir beobachten die Anstrengungen, neue Angebote zu schaffen, mit Sympathie. Dass ein Supermarkt koschere Ware führt, ist ein Zeichen dafür, dass jüdisches Leben wieder zum Alltag einer Großstadt gehört.«
Wenn in der Vergangenheit ein Geschäft für koschere Lebensmittel mangels Nachfrage schließen musste, mahnten Rabbiner stets, man müsse verstärkt koscheres Kochen unterrichten. Bistritzky gibt sich keiner Illusion hin: »Koscher kochen nur sehr wenige. Aber wenn es die Ware hier fertig gibt, kaufen die Leute sie auch.«
Mit dem Kaufmann Sven Anders scheint der Rabbiner den richtigen Geschäftspartner gefunden zu haben – die beiden schätzen und mögen einander. »Herr Anders hat sich schnell mit der Sache vertraut gemacht«, sagt der Rabbiner. »Ich höre von Freunden in Frankfurt: ›Wir wollen auch bei Edeka koscher einkaufen!‹ Aber das hier ist wie Einzelhandel, man muss einen Mann wie Herrn Anders finden.«