Wahlkampf in Berlin

»Wir haben eine klare Vision«

Sergey Lagodinsky über Verantwortung, Ziele und Zukunft der Gemeinde

 07.12.2015 16:17 Uhr

Sergey Lagodinsky Foto: Gregor Zielke

Sergey Lagodinsky über Verantwortung, Ziele und Zukunft der Gemeinde

 07.12.2015 16:17 Uhr

Herr Lagodinsky, Sie haben vergangene Woche auf einer zuvor abgesagten Repräsentantenversammlung (RV) den Wahlleiter abgesetzt und die Wahl verschoben. Wird die Wahl nun am 20. Dezember stattfinden?
Die Wahl wird höchstwahrscheinlich stattfinden. Wir sind der Meinung, die Wahl und das Wahlverfahren sind undemokratisch. Daher hatten wir ja beim Schiedsausschuss entsprechende Anträge gestellt.

Mit Emet präsentieren Sie Ihr oppositionelles Wahlbündnis aus insgesamt 17 Kandidaten. Wie war die Opposition bislang tätig?
Die Wahlbündnisse formieren sich immer kurz vor der Wahl, doch die Opposition gab es immer schon, etwa als Initiative Schalom, die aus dem gleichnamigen Wahlbündnis der vergangenen Wahl hervorgegangen ist, oder die Neuwahlinitiative, die die Abwahl des aktuellen Vorstands anstrebte. Wir waren die ganze Zeit dabei und haben immer wieder Kritik geäußert, waren aber auch konstruktiv tätig – ob bei der Antisemitismusbekämpfung, beim Eintreten für soziale Rechte der Zuwanderer, bei der Eltern- und Jugendarbeit oder im interreligiösen Dialog. Doch wie soll man etwas von uns innerhalb der Gemeindegremien mitbekommen, wenn die öffentlichen RV-Sitzungen nicht mehr stattfinden?

Wie verankert sind die Emet-Kandidaten in der Gemeinde?
Die Wähler kennen fast jeden von uns, da wir alle aktiv in der Gemeinde sind, jeder in seinem Bereich. Das ist die wichtigste Oppositionsarbeit, die wir leisten: Wir bauen aktiv Brücken innerhalb der Gemeinde und in die Gesamtgesellschaft hinein. Was die Arbeit der RV-Mitglieder unter uns angeht, muss betont werden: Wir sind kein Vollzeitparlament – die Tätigkeit ist ehrenamtlich. Daher muss sich keiner von uns vorwerfen lassen, dass wir zu wenig getan hätten.

Warum sollten die Wähler am 20. Dezember ihre Stimme den Emet-Kandidaten geben?
Weil wir eine klare Vision für diese Gemeinde haben. Sie geht darüber hinaus, was der amtierende Vorstand sich vorstellt, geschweige denn umgesetzt hat. Die Gemeinde ist kein Selbstbedienungsladen. Sie ist dazu da, die Notwendigkeiten und Interessen ihrer Mitglieder zu verteidigen und zufriedenzustellen. Unsere Leute beschäftigen sich seit Jahren professionell mit Geschichte, Politik, Kultur und Sozialem – all das machen dieser Vorstand und die selbst ernannten Koach-Experten nicht. Wir wollen die Gemeinde zusammenbringen und ihr eine Stimme und eine Zukunft geben.

Sie treten mit dem Motto an »Es gibt nur eine Wahrheit«. Ist das nicht ein wenig vermessen? Wie lautet diese eine Wahrheit?
Slogans sind immer eine Verkürzung. Unser Slogan soll ausdrücken, dass es nur eine Gruppierung gibt, die »Wahrheit« heißt, die es wert ist, über die Zukunft dieser Gemeinde zu entscheiden. Wir haben bei dieser Wahl zurzeit keine demokratische Alternative. Das ist das Ergebnis eines langen Austrocknungsprozesses jeglicher demokratischer Institutionen, auch der Ausschüsse. Vor vier Jahren konnte ich als Vorsitzender des Integrationsausschusses noch einiges bewegen – als Vorsitzender des Kulturausschusses ging das nicht mehr. Wenn wir so weitermachen, wird es diese Gemeinde so bald nicht mehr geben.

Sie sind seit acht Jahren in der Gemeindepolitik aktiv. Wie hat sich die Gemeinde in dieser Zeit verändert?
Die Politik in der Gemeinde gleicht momentan eher einem autoritären Regime als einer demokratischen Struktur. Das ist etwas, was mich sehr enttäuscht – und auch sehr motiviert. Denn es bedeutet, wir müssen unseren Mitgliedern die Möglichkeit zurückgeben, informiert zu sein und ihre besonderen Sorgen und Interessen auch artikulieren zu können.

Was muss dafür passieren?
Zum Beispiel mehr Autonomie, Würde und Mitspracherecht für die Synagogen. Sie sollen sich endlich ernst genommen wissen, etwa bei Einstellungen und Entlassungen von Rabbinern oder in Finanzfragen. Das ist der Kern unserer jüdischen Identität – diese Synagogengemeinschaften.

Mit welchen konkreten Konzepten überzeugt Emets Wahlprogramm – neben der Kritik an den Zuständen in der Gemeinde?
Wir wollen eine offene, zeitgemäße Struktur. Inzwischen ist die Gemeinde gewachsen und vielfältiger, auch sind die politischen und sozialen Herausforderungen heute andere. Wir haben zudem in Berlin so viele neue jüdische Akteure – mit denen muss man kooperieren. Wir werden unser Konzept zur Gründung einer Gesamtschule umsetzen, das Seniorenheim renovieren und die katastrophalen Pflegestandards für jüdische Pflegebedürftige anheben. Wir planen zudem eine Vermittlungsplattform für Praktika und Minijobs für Jugendliche bei jüdischen Unternehmen.

Worin sehen Sie die wichtigsten Aufgaben?
Die Zustände in Alters- und Pflegeheimen haben oberste Priorität. Wir haben eine Situation, in der die Schoa-Überlebenden in Altersheimen nicht einmal qualitatives Essen be-
kommen. Die Gruppe Koach setzt Schoa-Überlebende als Alibi-Kandidaten auf ihre Wahlliste – wir kümmern uns um sie. Nein, nicht alles, was in der Gemeinde heute passiert, ist schlecht, aber fast alles ist ein Ergebnis fehlgeleiteter Prioritätensetzung. Die wichtigsten Aufgaben sind würdevolle Alterssicherung und Investition in eine sichere Zukunft.

Wie wollen Sie diese Inhalte umsetzen?
Mit einer Mischung aus Transparenz, Professionalität und Selbstbewusstsein. Wenn wir die Verantwortung übernehmen, klären wir zuerst die vorhandenen Ressourcen. Die Verlautbarungen zum Finanzzustand der Gemeinde sind ein Märchenbuch ohne Belege. Aus meiner Sicht haben wir große finanzielle Probleme. Andernfalls hätte man die Entlassung des Antisemitismusbeauftragten nicht mit dem Finanzargument begründet – das ist ein Widerspruch zum üblichen Selbstlob des jetzigen Vorstands. Gegenüber dem Land Berlin müssen wir selbstbewusst auftreten – kein Kuschelkurs mit dem Senat, das habe ich schon als Oppositioneller unter Lala Süsskind vertreten. Doch Selbstbewusstsein bedeutet nicht Skandale. Wir wollen unsere lebendigen Verbindungen in alle politischen Parteien der Berliner Politikszene und Wirtschaft einsetzen, um professionelles Fundraising anzukurbeln. Voraussetzung dafür ist allerdings Transparenz. Wer füttert schon gern schwarze Löcher?

Inwiefern tragen die Dauerkonflikte in der Gemeinde womöglich zum Verdruss bei?
Die Auseinandersetzungen kommen nicht von uns. Ich erinnere mich an die ersten Sitzungen vor vier Jahren. Wir waren neugierig, nicht verbittert. Ich war Zusammenarbeit gewohnt, obwohl ich oft anderer Meinung war. Doch Koach ist nicht an Zusammenarbeit interessiert. Wir sind Menschen, die arbeiten wollen – für die Gemeinde und ihre Mitglieder. Uns geht es nicht um Konflikte und Skandale, sondern um die Integrität der Gemeinde als demokratische Struktur für ihre Mitglieder.

Wie wollen Sie das den Wählern vermitteln, die noch unschlüssig sind?
Durch Professionalität und Erfahrung. Wir können keine Empfänge schmeißen oder Chanukka-Partys mit Stars aus Israel, keinen Schabbaton mit zweckentfremdeten Geldern mit viel Essen. Alles, was wir haben, ist unsere Glaubwürdigkeit aufgrund unserer Arbeitserfahrung. Wir sind Macher. Wenn wir jetzt häufig kritisieren, dann liegt das daran, dass einfach Transparenz und Informationen fehlen – doch nur auf dieser Basis ist eine Wählerentscheidung überhaupt erst möglich.

Wie nehmen Sie die Stimmung in der Gemeinde wahr?
Viele Gemeindemitglieder sehen in dieser Wahl die letzte Chance für die Gemeinde. Sie wollen ihr ein neues Image verpassen. Sie schämen sich dafür, wie die Gemeinde nach außen auftritt. Sie wollen nicht, dass dieser Vorstand sie repräsentiert – das ist die Stimmung, die ich spüre. Gideon Joffe redet einfach nicht mit Leuten, die ihm widersprechen. Daher glaubt er an seinen Erfolg.

Wenn Sie jetzt schon von Unregelmäßigkeiten ausgehen, wie geht es dann nach der Wahl weiter?
Wir sind überzeugt, dass es zu einem Wechsel kommt. Denn das Ausmaß der Unzufriedenheit breiter Mitgliederschichten kann man nicht wegmanipulieren. Wenn diese Leute alle kommen und ganz klar uns ihr Votum geben, dann haben wir eine sehr gute Chance auf einen Wechsel. Wichtig ist dabei: persönlich zu wählen und sicherzustellen, dass die Wahlzettel sofort direkt in der Urne landen. Nur so lassen sich Manipulationen reduzieren. Plan B gibt es immer. Doch hier geht es um unsere Chance. Jedes wahlberechtigte Gemeindemitglied kann am 20. Dezember Zukunft mitgestalten. Die Leute müssen einfach kommen und abstimmen. Für uns.

Mit dem Spitzenkandidaten von Emet sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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