Es ist gewissermaßen eine europäische Familienzusammenführung auf Jüdisch – die Mutter stammt aus dem ukrainischen Charkiw, der Vater aus Moskau, die Tochter kam in Deutschland zur Welt. Diese Familie steht symbolisch für die neue jüdische Generation in Deutschland: Die Eltern sind vor Jahren aus Osteuropa gekommen, haben sich in der Jüdischen Gemeinde Schwerin kennengelernt und in Mecklenburg ihre Familie gegründet. Vor mittlerweile zehn Jahren wurde Tochter Daniela geboren. »Unsere Zukunft ist unsere Tochter«, erzählt Mutter Natella Lewi und ergänzt: »Ja, es war richtig und gut, nach Deutschland zu kommen«.
So wie die heute 41-jährige Natella Lewi haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten Zehntausende jüdischer Emigranten aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion entschieden, in der Bundesrepublik ein neues Leben zu beginnen. In Mecklenburg-Vorpommern konnten sie allerdings bei ihrem Neuanfang auf kein funktionierendes jüdisches Gemeindeleben bauen, das gab es im Nordosten nicht mehr.
Neuanfang »Wir haben bei minus null angefangen«, blickt heute Valeriy Bunimov, der Vorsitzende des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern, auf die Anfangszeit zurück. Vor 20 Jahren, Ende April 1994, gründeten sowohl in Schwerin als auch in Rostock russischsprachige Juden jeweils neue Gemeinden, am selben Tag, am 24. April.
Es war für das jüdische Leben in Mecklenburg und Vorpommern der zweite Neubeginn. 1948 hatten wenige Überlebende des Holocaust noch in der Sowjetischen Besatzungszone eine Jüdische Landesgemeinde Mecklenburg mit Sitz in Schwerin gegründet. Diese Gemeinde vertrat die Interessen der im Norden der DDR lebenden Juden, allerdings existierte die Gemeinde in den 80er-Jahren nur noch pro forma. Ein aktives, religiöses Gemeindeleben war aufgrund der wenigen Mitglieder nur in den Anfangsjahren möglich gewesen.
Die Neugründungen der Gemeinden in Rostock und in Schwerin waren 1994 nicht nur die Geburtsstunden für ein neues Judentum in Mecklenburg-Vorpommern, sie waren auch der Beginn einer rasanten Entwicklung, wie sie einerseits kaum einer vorhersehen konnte und andererseits, wie es sie selbst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gab. Mit dem Zuzug der Juden aus Osteuropa wuchsen die beiden norddeutschen Gemeinden so stark, dass sie innerhalb von sieben Jahren schon mehr Mitglieder hatten als vor der NS-Zeit.
»Ob ein Jude aus Kasachstan, aus Kairo oder aus Kanada hierherkommen würde, er könnte immer an einem jüdischen Gottesdienst teilnehmen«, betont Landesrabbiner William Wolff. Für ihn ist ganz klar, »wir haben hier mittlerweile ein glaubwürdiges jüdisches Gemeindeleben«. Daran hat Wolff großen Anteil. Seit 2002 ist er Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern. Davor kam er schon einige Jahre als Gast aus seiner Heimat Großbritannien in sein Geburtsland und in die Gemeinden. Wolffs Eltern waren bereits 1933 vor den Nationalsozialisten aus Berlin geflohen.
»Er ist einfach cool. Von ihm können wir ganz viel lernen, und ich habe große Hochachtung vor ihm«, schwärmt Georgi Budaratskij von seinem Rabbiner. Georgi wird im Mai 17 Jahre alt, und es war Rabbiner Wolff, der den Jugendlichen vor wenigen Jahren auf die Barmizwa vorbereitet hatte, so, wie er es nun mit Georgis Bruder Elias macht. Während Georgi noch in der Ukraine geboren wurde, ist der zwölfjährige Elias bereits in Deutschland zur Welt gekommen.
Auch die Familie Budaratskij steht für eine multikulturelle Geschichte mit einer jüdischen, in der Ukraine geborenen Mutter und einem russisch-orthodoxen Vater. Jana Budaratskij weist ihre Söhne immer wieder darauf hin, wie wichtig es ist, dass sie über ihre Wurzeln Bescheid wüssten, dass sie Juden seien. Auch wenn der jüngere Elias in der Schule schon Hänseleien erlebt hat, sein größerer Bruder Georgi kann offen mit Klassenkameraden über seine jüdische Herkunft sprechen.
Abwanderung Diese beiden sind wie zahlreiche andere jüdische Kinder in Schwerin, Wismar und Rostock in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Schule gegangen, haben einen Beruf erlernt oder ein Studium begonnen, es vielleicht auch schon abgeschlossen. Allerdings verlassen die jungen Leute größtenteils Mecklenburg in Richtung Westen. So sind die Gemeinden sowie ihre Dependance in Wismar in den vergangenen Jahren wieder etwas geschrumpft, denn aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion kommen nur noch wenige Juden nach Deutschland.
Vor neun Jahren war die damals gerade geborene Daniela Lewi das 1000. Gemeindemitglied in Schwerin. Heute sind es nur noch rund 930, in Rostock leben weitere knapp 600 Juden. Doch selbst, wenn die Mitgliederzahlen rückläufig sind, das Gemeindeleben ist sowohl in der Hansestadt wie in der Landeshauptstadt religiös wie auch kulturell intakt. Seit 1997 gibt es in Rostock das Theater »Mechaje«, das sich als einziges jüdisch-russisches Theater Norddeutschlands weit über die Grenzen Rostocks hinaus einen Namen gemacht hat. Schwerin hingegen ist stolz auf seinen Synagogal-Chor »Masel Tow«, der ebenfalls bereits in ganz Norddeutschland aufgetreten ist.
Kultur Eine Vorstellung werden die Sängerinnen und Sänger des Chors auf keinen Fall vergessen – die am 3. Dezember 2008. An diesem Tag wurde in Schwerin die neue Synagoge eröffnet. »Ein großes Ereignis«, sagt Sozialarbeiterin Janina Kirchner rückblickend, »nicht nur für mich und die Gemeinde, sondern auch für die Stadt Schwerin«. 70 Jahre zuvor war die damalige Schweriner Synagoge nach der Pogromnacht zunächst von den Nazis zerstört und wenig später abgerissen worden. Genau auf diesen historischen Fundamenten entstand 2008 ein neues, modernes Gotteshaus – im Zentrum der Landeshauptstadt.
In Rostock hingegen konnte die Gemeinde keine Synagoge am traditionellen Standort errichten. In der Augustenstraße hatten die Nationalsozialisten am 10. November 1938 das Gotteshaus in Brand gesteckt, Jahrzehnte später wurden hier neue Wohnhäuser errichtet. In unmittelbarer Nähe stellte die Stadt der Gemeinde 2004 jedoch eine ehemalige Schule als neues Gemeindezentrum zur Verfügung und im Juni 2004 wurde auch die neue Rostocker Synagoge eröffnet, genau 102 Jahre nach der bis dahin letzten in Mecklenburg.
So haben in den vergangenen 20 Jahren jüdische Emigranten aus Osteuropa nicht nur in Deutschland eine neue Heimat gefunden und sich ihrer jüdischen Herkunft erinnert, sondern auch zwei funktionierende Gemeinden aufgebaut – in Ruhe, frei von Skandalen und mit finanzieller Unterstützung durch die Landesregierung sowie der Städte Schwerin und Rostock. Während Großeltern und Eltern sich nach wie vor mehr als russische, ukrainische oder baltische Juden in Deutschland fühlen, sind ihre Kinder und Enkel nicht nur hier aufgewachsen, sie sehen in Deutschland auch ihre Heimat. Georgi Budaratskij, bringt es simpel auf den Punkt: »Es ist die Heimat für mich. Ich lebe hier und fertig.«