Lange war Hamburg ein wenig wie das Mauerblümchen unter den jüdischen Gemeinden in Deutschland. Eine kleine eingeschworene Gemeinde, viele Querelen und kaum Präsenz im Alltag der Stadt unterstrichen dieses Image. Vom 1. bis zum 3. Juni findet nun in der Hansestadt der Gemeindetag des Zentralrats der Juden statt. Genau zur rechten Zeit, denn das Mauerblümchen blüht auf.
Schon in der Umgebung des Hamburger Grindelviertels lässt sich erahnen, dass hier das alte und das neue Herz des jüdischen Lebens in der Hansestadt schlägt. Ein kleiner Laden bietet Mazzot und Weine aus Israel an, Kinder mit Blumenschmuck im Haar spazieren zu Schawuot durch die sonnenbeschienenen Straßen des Hamburger Frühsommers und erzählen ihren Eltern von der Schabbatfeier in der Schule. Vor vielen Häusern mahnen die bronzenen Stolpersteine daran, die ehemaligen Bewohner nicht zu vergessen.
Schule Mittlerweile ist um die alte Talmud-Tora-Schule ein neues, lebendiges Zentrum der Hamburger Juden entstanden. Neben dem ehemaligen Standort der Synagoge erhebt sich das schmucke Backsteingemäuer der heutigen Joseph-Carlebach-Schule. In direkter Nachbarschaft zur Hamburger Universität toben mittags die Kinder der inzwischen fünf Klassen, die hier die Ganztagsschule besuchen.
Die modernen Lehrmethoden und die kleinen Klassen haben dazu geführt, dass die Schule nicht nur in der jüdischen Gemeinde sehr beliebt ist und sich Jahr für Jahr mehr Schüler anmelden. Seit dem vergangenen Jahr ist die Joseph-Carlebach-Schule auch eine Stadtteilschule und soll sukzessive bis zum Abitur ausgebaut werden. In diesem Frühjahr feierte man das 100-jährige Jubiläum der Talmud-Tora-Schule, und das Schulleben ist lebendig wie lange nicht mehr.
Zahlreiche Aktivitäten werden mittlerweile im erweiterten Rahmen der Gemeinde angeboten. Im Sommer findet ein »Gan Israel«-Ferienlager für Kinder in Hamburg statt, jeden Sonntag lädt das Jugendzentrum »Chasak« Kinder und Jugendliche zum gemeinsamen Lernen, Spielen und Sporttreiben ein. Seit drei Jahren bildet das Café Leonar, wie die Schule im Grindelhof beheimatet, ein Herzstück des kulturellen jüdischen Lebens.
Kulturangebote Momentan wegen eines Umbaus an ungewohnter Stelle ein paar Häuser weiter angesiedelt, dafür mit einem sonnigen Garten ausgestattet, finden hier regelmäßig Lesungen und Konzerte statt. Ebenso kann man sich hier, wie im direkt um die Ecke gelegenen Bistro Jerusalem im modernen Glasanbau der Hamburger Kammerspiele, mit Leckereien und Getränken erfrischen.
In der Rentzelstraße, nur einen Katzensprung entfernt, liegt das Gemeindezentrum von Chabad Lubawitsch. Die Verbindungen zwischen den Gemeinden sind spätestens seit Beginn des Jahres eng geworden, als mit Shlomo Bistritzky ein Lubawitscher den lange vakanten Posten des Landesrabbiners übernahm. Von ihm erhoffen sich manche neuen Schwung in der Gemeinde.
Erst 34 Jahre alt ist der sechsfache Vater, und seine Antrittsrede ließ eine Ahnung davon aufkommen, wie die Hamburger Gemeinde in Zukunft aussehen könnte. Ein Rabbiner für alle Hamburger Juden wolle er sein, so Bistritzky: »Vielleicht, weil es eine Hafenstadt ist, leben hier Juden aus aller Welt, und ich sehe es als meine Aufgabe, zu vermitteln und für sie alle da zu sein.«
Aufbruch Die Hamburger Synagoge liegt nur wenige Fahrradminuten vom Grindelhof entfernt an der Hohenluft. Die Synagoge wurde jüngst mit einem neuen Anstrich und neuer Beleuchtung versehen, das ist durchaus symbolisch zu verstehen für die Aufbruchstimmung in Hamburg. Auch hier ist der frische Wind deutlich zu spüren, der durch die Gemeinde weht.
Als Rabbiner Bistritzky in sein Amt eingeführt wurde war sie bis auf den letzten Platz voll. Es war ein beeindruckendes Beispiel aktiven, durchmischten Gemeindelebens. Viele Lubawitscher waren zu diesem Ereignis aus aller Welt gekommen, aber ebenso alteingesessene Hamburger jüdische Familien und zahlreiche Mitglieder, die in den vergangenen Jahren aus den osteuropäischen Ländern zugezogen sind und die mittlerweile einen Großteil der 3.000 Hamburger Juden stellen.
Zu Purim waren 400 Besucher in der Synagoge, um zu feiern, auch dies ein Zeichen, dass es dem erst im letzten Jahr komplett neu gewählten Vorstand ernst damit ist, eine neue offenere Gemeindestruktur zu etablieren. Dieser neue Geist einer vielseitigen Gemeinschaft lässt sich auch an dem Motto des Gemeindetages festmachen: »One people, one community«.
Auch jenseits der orthodoxen Gemeinde tut sich Einiges. Die liberale jüdische Gemeinde Hamburgs, angetreten mit einem egalitären Anspruch, ist mittlerweile auf fast 400 Mitglieder angewachsen, nachdem sie erst im Jahr 2004 ins Leben gerufen wurde. Sie knüpft an eine bestehende Tradition in Hamburg an, denn hier gab es vor 1938 eine bedeutende Reformgemeinde.
Ihr Fokus liegt auf sozialer Arbeit und auf der Integration jüdischen Lebens in den deutschen Alltag. Im vergangenen Jahr entstand zudem das »Machon Aviv« als jüdisches Lernzentrum, in dem Hebräisch-Kurse angeboten und Workshops abgehalten werden. Auch hier geht es um ein gemeinsames Lernen im egalitären Rahmen über die Grenzen der Gemeinde hinaus.
Tradition Nicht nur im Grindelviertel lassen sich die Spuren des Hamburger Judentums finden. Etwas abseits liegt der Altonaer Friedhof, der der älteste jüdische Friedhof der Hansestadt ist. Einst von der portugiesischen Gemeinde gegründet, findet man dort noch zahlreiche historische Gräber mit beeindruckenden Inschriften und Verzierungen. Momentan läuft ein Antrag auf Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe.
Während des Gemeindetages wird es auch dorthin eine Führung geben. So lockt Hamburg mittlerweile nicht nur aufgrund der Vergangenheit mit einigen Angeboten auch über den Gemeindetag hinaus und wird demnächst vielleicht sein Dasein als Mauerblümchen langsam, aber sicher los.