Als einzige Stadt in Deutschland lädt Frankfurt am Main auch die zweite und dritte Generation Holocaust-Überlebender einmal im Jahr zu Besuch ein. Das »Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt« hilft den Zeitzeugen, ihren Kindern und Enkeln seit mehr als 30 Jahren bei der Spurensuche und Begegnung mit der alten Heimat und den neu gefundenen Wurzeln. Darüber ist nun auch ein Buch erschienen, rechtzeitig zum Besuch der nächsten Gäste Ende Mai.
Felix Weil verließ seine Heimatstadt mit einem Kindertransport. Am Frankfurter Hauptbahnhof verabschiedete er sich von seinen Eltern, nicht wissend, dass es ein Abschied für immer sein würde. Eltern und Schwester wurden deportiert, Felix Weil floh in die USA. 1946 kehrte er als amerikanischer Soldat an den Main zurück. »Das war eine dramatische Erfahrung.
Sollte ich ein Gewehr holen und einfach drei Deutsche töten, als Ausgleich für den Verlust meiner Angehörigen?«, fragte er 1992 in einem Interview. 50 Jahre nach Kriegsende besucht er abermals die frühere Heimat, trifft heutige Frankfurter und spricht vor Schulklassen. Sein Sohn Loren und seine Tochter begleiten ihn. »Es ist, als ob ein Kapitel sich schließt. Es gehört eine Menge Mut dazu, zurückzukehren«, sagt Loren Weil.
Ängste Die Erfahrungen, Gefühle und Ängste vieler Zeitzeugen, ihrer Kinder und Kindeskinder hat Angelika Rieber zusammengetragen. Fast allen ehemaligen Frankfurtern und ihren Angehörigen, die zu Besuch kamen, ist sie im Laufe der Jahre begegnet. Mehr als 3500 waren es, seit die Stadt 1980 erstmals in die frühere Heimat einlud.
Die 62-jährige Lehrerin gehört zu den Initiatorinnen der Gruppe »Jüdisches Leben in Frankfurt«, die seit mehr als 30 Jahren die Gäste begleitet und betreut, Besuche in Schulen und Treffen mit Lehrern und jungen Menschen vorbereitet. Nachzulesen ist ein Teil dieser Begegnungen mit ehemaligen Frankfurtern und ihren Kindern in dem Buch Unsere Wurzeln sind hier in Frankfurt.
Rieber hat Geschichte und Politik in Frankfurt studiert. Schon als Kind interessierte sie sich für politische und historische Sendungen im Fernsehen. »Bis in die 70er-Jahre hinein gab es kaum Informationen zum Nationalsozialismus und zum Holocaust«, erinnert sie sich. Nicht zu Hause, in der Schule und auch nicht im Studium. »Die Antworten auf meine Fragen waren nicht ausreichend.« Bis sie erstmals in Kontakt mit Zeitzeugen kam.
Engagement Früh engagierte sie sich gegen erneute rechtsradikale Tendenzen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. In der Gewerkschaft traf sie auf ehemalige politische KZ-Häftlinge, Widerständler und auch Holocaust-Überlebende. »Hier erfuhr ich endlich, was nicht in den Geschichtsbüchern stand.« Als junge Lehrerin begann Rieber, diese Zeitzeugen in ihre Schulklassen einzuladen. »Damit waren wir damals allein auf weiter Flur«, erinnert sie sich. Die Kollegen waren interessiert, aber kaum einer ebenfalls engagiert.
Ende der 70er-Jahre gründete sie zusammen mit Gleichgesinnten das Projekt »Jüdisches Leben in Frankfurt«. Sie zeichneten Interviews mit Zeitzeugen auf und legten Dokumentationen an. Hauptziel war zunächst, Material für den Schulunterricht zu sammeln. Einige Jahre schlüpfte die Gruppe unter das Dach der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Heute sind sie ein eigenständiger Verein und arbeiten gerade an einer eigenen Website, berichtet Gaby Thielmann. Sie ist ebenfalls Lehrerin und arbeitet seit ihrer Pensionierung intensiv in der Gruppe mit.
Herausforderung Seit den ersten Besuchen ehemaliger jüdischer Bürger in Frankfurt gehört die Gruppe zum »inoffiziellen« Teil des Besuchsprogramms. »1984 waren wir das erste Mal dabei«, erinnert sich Rieber. Die Mitglieder begleiteten damals die Stadtrundfahrten, knüpften erste Kontakte zu den Besuchern.
Eine der ersten Zeitzeuginnen war eine Holocaust-Überlebende, die von ihrem Martyrium in Auschwitz erzählte. »Gleich die erste Begegnung stellte uns vor eine große Herausforderung. In dem Moment, als sie begann, von Auschwitz zu erzählen, servierte uns der Ober ein Eis. Wir konnten es kaum anrühren, wussten nicht so recht, wie wir mit der Situation angemessen umgehen sollten«, erzählt die 62-Jährige.
In den ab 1989 folgenden unzähligen Interviews und Zeitzeugengesprächen, die die Gruppe mit Schülern und in Schulen organisierte, erlebten sie hautnah, wie schwer die Erinnerungen auf den Betroffenen lasteten, welche Überwindung es sie kostete, über das Erlittene zu sprechen und welche Ängste mit dem oftmals ersten Besuch in Deutschland seit der Zeit des Nationalsozialismus verbunden waren. Und wie sorgfältig und sensibel gerade aus diesen Gründen auch ein Zusammentreffen junger Deutscher mit Zeitzeugen vorbereitet werden muss. Rieber, Thielmann und die anderen rund zehn Aktiven der Gruppe laden Lehrer und Schüler im Vorfeld der Besuche daher gleich zu mehreren Treffen und Seminaren ein.
»Wir erkannten, dass es ein Bedürfnis gibt zu reden, und dass das ein enormes Potenzial ist für den Austausch und die Verständigung«, sagt Rieber. In den vergangenen Jahren entstand eine Vielzahl an Dokumentationen, Artikeln, Biografien. Darunter auch Filmporträts der Zeitzeugen, die heute sogar digitalisiert sind und an Schulen ausgeliehen werden. Einmalige Dokumente auch deshalb, weil viele der Porträtierten inzwischen gestorben sind, ihre Lebensgeschichten so aber nicht in Vergessenheit geraten.
Wurzeln Weil viele der Zeitzeugen älter wurden, nicht mehr allein oder selbst die Reise antreten konnten, beschloss die Stadt 2007, den Besuch der ehemaligen Frankfurter in der zweiten und dritten Generation fortzusetzen. Auch die Kinder und Enkel sollten in die Stadt eingeladen werden, in der ihre Wurzeln liegen. Da diese aber Frankfurt meist gar nicht kennen und auch nicht Deutsch sprechen, begleitet die Projektgruppe sie dort, hilft bei der Spurensuche nach alten Freunden, Verwandten oder Erinnerungsorten. »Wir helfen, alte Verbindungen wiederherzustellen und neue zu schaffen«, sagen die beiden Lehrerinnen.
Angelika Rieber und Gaby Thielmann erinnern sich an eine besonders anrührende Geschichte. An Erich Loeb, dessen Familie erst nach Italien, später in die USA floh. 1935 musste er sich von seinem besten Freund »Mobbel«, einem nichtjüdischen Nachbarsjungen, trennen. 2008 kam Erich Loeb mit dem Besuchsprogramm nach Frankfurt. Angelika Rieber und die Projektgruppe machten »Mobbel«, der Arnulf Borsche hieß, für ihn ausfindig. Ein Wiedersehen nach 72 Jahren.
Freundschaften Borsche ist unterdessen gestorben. Erich Loebs Töchter Susan und Carol sind jedoch heute mit seinen Kindern befreundet. »Der Dialog geht weiter, auch in der nächsten Generation. Das ist unser Anliegen«, sagt Rieber. Sie selbst ist seit Jahren mit der Familie Sommers befreundet, die in den USA lebt. Ruth, Martha, Walter und dessen Kinder Ron und Nancy lernte sie über das Besuchsprogramm kennen, wird heute zu Hochzeiten und Geburtstagen der Familie eingeladen.
Das Engagement in der Gruppe hatte über die Jahre auch Auswirkungen in der eigenen Familie von Angelika Rieber und Gaby Thielmann. Dort wurde das Thema Nationalsozialismus und mögliche eigene Verstrickungen meist gemieden. »Die Begegnungen haben mir geholfen, offener mit meinen Eltern über die Vergangenheit zu sprechen«, sagt Rieber.
Angelika Rieber: »Unsere Wurzeln sind hier in Frankfurt«. Morlant, Karben 2013, 220 S., 19,90 €