Volker Bouffier ist es gewohnt, Reden zu halten. Drei Jahrzehnte in der hessischen Landespolitik haben aus dem CDU-Ministerpräsidenten einen geschulten Rhetoriker gemacht. Allerdings gehört Bouffier zu jener Sorte Politiker, von der man vor allem kantige, manchmal harte Äußerungen gewohnt ist. Die Bühne, auf der er an diesem Sonntagvormittag steht, hat nichts mit dem hessischen Landtag gemein. »Auch ein Politiker betritt ein Gotteshaus nie nur in seiner öffentlichen Funktion«, erklärt Bouffier mit ungewohnt sanftem Tonfall, »sondern immer auch als einzelner Mensch in Gottes Angesicht.«
Referenz Einsam indes dürfte sich der Ministerpräsident an diesem Tage nicht vorkommen. Zu seinen Füßen haben einige hundert Menschen Platz genommen. Hinter Bouffier scheint das Ewige Licht. »An Tagen wie diesem wünscht man sich, dass Mauern sprechen könnten«, sagt Bouffier. Tatsächlich hätten die umgebenden Wände einiges zu erzählen. 100 Jahre wird die Westend-Synagoge dieser Tage alt. Und an diesem Sonntag gibt sich die Frankfurter Stadtgesellschaft die Ehre, um dem Bauwerk und der jüdischen Gemeinde ihre Referenz zu erweisen.
Auf der Straße vor der Synagoge patrouilliert ein gutes Dutzend Polizisten. Von der U-Bahn-Station Westend strömen unablässig Kleingruppen von gut gekleideten Menschen die Freiherr-vom-Stein-Straße nach oben, ehe sie an der Sicherheitskontrolle aufgehalten werden.
Letzteres ist man im Westend sonst nur an Schabbat gewohnt. Die Aufmerksamkeit der jüdischen und nichtjüdischen Besucher gilt ganz dem Gebäude, der einzigen von einstmals vier großen Frankfurter Synagogen, die das 20. Jahrhundert überstanden hat.
liberalität Als die Synagoge am 28. September 1910 nach zwei Jahren Bauzeit zum ersten Mal eröffnet wurde, war von den kommenden Verheerungen noch nichts zu ahnen. Der neue Synagogenbau war Ausdruck einer Bewegung, die sich um Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft bemühte. Ein neuer, liberalerer Gottesdienst sollte diesem Streben Ausdruck verleihen: Ein höherer Anteil der Landessprache im Gottesdienst, Männer und Frauen gemeinsam im Innenraum, Orgelmusik und Chorgesang waren einige dieser Neuerungen. Die neue Synagoge sollte diesem progressiven Gottesdienst eine Heimstätte bieten. Eine Million Reichsmark in Gold mussten die Gemeindemitglieder investieren. Einige Ideen sollten später um die Welt gehen. In diesem Sinne sei die Westend-Synagoge die »Wiege der Weltvereinigung des liberalen Judentums«, so der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Salomon Korn.
28 Jahre nach ihrer Eröffnung wurde die Westend-Synagoge von SA-Männern geschändet. Während die drei anderen Großsynagogen Frankfurts ein Raub der Flammen wurden, hielt die dichte umgebende Bebauung die Nazi-Trupps davon ab, auch die Westend-Synagoge in Brand zu stecken. Ein Jahr später musste die Gemeinde das Gebäude der Stadt übereignen.
In den Folgejahren diente das Gotteshaus als Materiallager des Frankfurter Schauspielhauses und als Möbellager für »fliegergeschädigte Volksgenossen«, ehe es 1944 bei Bombenangriffen der Alliierten fast vollständig zerstört wurde. 1950 wurde der renovierte Bau wiedereröffnet, hatte jedoch im Innern sein orientalisch geprägtes Dekor eingebüßt. Dieses wurde zwischen 1988 und 1994 aufwendig wiederhergestellt.
Denk- und Mahnmal Angesichts ihrer wechselvollen Geschichte sei die Westend-Synagoge »Denkmal und Mahnmal« zugleich, betont Volker Bouffier. »Ein Symbol für den kulturellen Reichtum jüdischen Lebens in unserem Land«, das trotz aller Restaurierung immer noch die »Narben des Nationalsozilismus« trage. Für die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth ist die Westend-Synagoge »wieder Zentrum einer vitalen jüdischen Gemeinde«. Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt mache deutlich, dass kulturelles Erbe und Teilhabe an einer modernen Gesellschaft kein Widerspruch sind.
Für Salomon Korn indes besteht das Besondere der Westend-Synagoge darin, dass in ihr heute die Hauptströmungen des Judentums unter einem Dach zusammenkommen. Diese Synagoge habe sich im 21. Jahrhundert »zu einer einzigartigen Einrichtung in Europa, vermutlich sogar weltweit« entwickelt, betont Korn und schließt den Festakt mit einem Wunsch: »Möge diese Synagoge nach ihrer wechselvollen Geschichte sowie all jene, die in ihr beten oder sie aufsuchen, einer friedlichen und hoffnungsvollen Zukunft entgegengehen.«