Der kleine Tisch, an dem man sich das Gesicht mit seinem Lieblingssuperhelden bemalen lassen kann, ist regelrecht umlagert. Die Jungs wollen alle wie Spiderman aussehen, die Mädchen tendieren mehrheitlich zu Aquagirl. Auf diesen Sonntagvormittag haben sich die Kinder in der Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Spandau lange gefreut.
Es ist Mitzvah Day, der vom Zentralrat der Juden initiierte Aktionstag für zivilgesellschaftliches Engagement. Mitglieder der Synagogengemeinde Oranienburger Straße sind zu Gast in der zum Wohnheim umfunktionierten Industriehalle im Spandauer Nordosten. Gemeinsam mit den Kindern malen die zehn Männer und Frauen farbige Mandalas aus, basteln kleine Papiersternchen, lesen lustige Märchen und verbringen Zeit miteinander.
Erlaubt ist alles, was Freude macht. »Am coolsten finde ich das Gesichtsschminken. Es macht mir immer sehr viel Spaß«, sagt Alireza aus Afghanistan sichtlich begeistert. Der Siebenjährige hat sich wie seine Kumpels einen rot-schwarzen Spinnenmann-Look aufs Gesicht zaubern lassen. Der Junge kennt viele der jüdischen Ehrenamtlichen schon. Seitdem zum Mitzvah Day 2015 die Idee eines wohltätigen Engagements in der Flüchtlingshilfe entstanden ist, kommen die Beter aus der Oranienburger Straße regelmäßig nach Spandau – mindestens einmal im Monat, und wenn es zeitlich passt, auch häufiger.
Märchenbuch Till ist als Freiwilliger zum ersten Mal dabei. »Die Flüchtlingsfrage bewegt mich schon seit einiger Zeit. Ich finde es wichtig, sich als jüdische Gemeinde aktiv in die Gesellschaft einzubringen«, erklärt der 44-Jährige. Als Komponist reise er zu Gastspielen durch die ganze Republik. Da bleibe ihm kaum Zeit für kontinuierliches ehrenamtliches Engagement. »Gerade deswegen ist ein sozial-politischer Tag wie der Mitzvah Day genau das Richtige. Die Aktion ist sehr bereichernd«, sagt Till und greift sich, umringt von einer Kindertraube, gleich das nächste Märchenbuch zum Vorlesen.
Seine aus Israel stammende Frau Ronny stimmt ihm zu: »Ich verstehe mein Judentum als einen Aufruf zum Einbringen in die Zivilgesellschaft. Mein Mann und ich engagieren uns in der Oranienburger Straße, weil zivilgesellschaftliche Aktivitäten zur Identität dieser Gemeinde gehören«, sagt sie.
Dass jüdischer Glaube und wohltätige Arbeit Hand in Hand gehen, davon ist Rabbinerin Gesa Ederberg überzeugt. Die Berliner Gemeinderabbinerin hat im Frühjahr zusammen mit der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) und dem American Jewish Committee (AJC) eine Kooperation mit der israelischen Katastrophenhilfe »IsraAid« gegründet.
Der Gedanke dahinter: Die weltweite Erfahrung der Organisation im Umgang mit Menschen in Krisensituationen soll für die Flüchtlingshilfe genutzt werden. So haben Vertreter von IsraAid für die Beter in der Oranienburger Straße und die Mitarbeiter der Flüchtlingsunterkunft in Spandau dreimonatige psychosoziale Fortbildungskurse zum Umgang mit traumatisierten Menschen veranstaltet.
Spieltage »Die Seminare von IsraAid waren überaus hilfreich. So eine intensive Schulung hatte ich zuvor selbst noch nicht bekommen. Das vermittelte Know-how hat die Arbeit der Freiwilligen sicher ein Stück weit professioneller gemacht«, sagt Frank Rehnen von der Berliner Stadtmission. Der Sozialverband leitet die Flüchtlingsunterkunft in Spandau.
Rehnen steht den Gemeindevertretern bei ihren regelmäßigen Spieltagen mit den Kindern in der Unterkunft mit Rat und Tat zur Seite. Der junge Mann erzählt, dass die Heimleitung der Gemeinde sehr dankbar für das regelmäßige Kommen sei. Man ist sehr zufrieden, dass mit der Zeit eine dauerhafte Kooperation zwischen Gemeinde und Flüchtlingsunterkunft entstanden ist.
»Der Alltag im Heim kann sehr eintönig sein. Für die Kinder ist es immer das absolute Wochen-Highlight, wenn die Ehrenamtlichen sie besuchen. Die Kinder und viele regelmäßig zu uns kommende Gemeindemitglieder haben inzwischen eine für das Miteinander wichtige Vertrauensbasis aufgebaut«, so der Sozialarbeiter.
kippa Ganz bewusst hat sich Rabbinerin Ederberg für ein Engagement in der Flüchtlingshilfe entschieden. Denn auch, wenn es die unterschiedlichsten Formen gibt, sich sozial aktiv in die Gesellschaft einzubringen, ist die Integration von Geflüchteten eine der drängendsten Herausforderungen – insbesondere auch für die jüdische Gemeinschaft. Denn die überwiegende Mehrheit der nach Deutschland geflüchteten Menschen stammt aus muslimischen Ländern, in denen Antisemitismus und der Hass auf Israel fest in der Alltagskultur verwurzelt sind. Viele der Flüchtlinge hatten noch nie in ihrem Leben Kontakt zu einem Juden. Um bestehende Ressentiments und Stereotype abzubauen, sei das persönliche Gespräch »sicherlich immer noch das beste Mittel«, darin sind sich die freiwilligen Helfer der Oranienburger Straße einig.
Auch Michael Grant ist davon überzeugt. Der gebürtige Engländer lebt seit Januar in Berlin und ist Mitglied der Synagogengemeinde. Die Flüchtlingsunterkunft besucht er bereits zum vierten Mal. Hier gestaltet er mit Kindern und Erwachsenen einen Deutschkurs. Beim letzten Aktionstag hat er zusammen mit Mädchen Halsketten gebastelt.
Stets trägt Michael Grant als Zeichen seiner Religiosität und jüdischen Identität die Kippa. Schlechte Erfahrungen habe er in Spandau deswegen noch nie gemacht. »Mit meiner Arbeit in der Unterkunft möchte ich auch zeigen, dass Juden keine schlechten Menschen sind«, sagt Grant. Heute Morgen habe ihn ein Mann mit einem fröhlichen »Schalom« begrüßt. Es sind Momente wie diese, die ihn weiter anspornen, auch den nächsten Besuch in Spandau wieder aktiv mitzugestalten.