Herr Jacoby, Sie haben mehr als zehn Synagogen in Deutschland gebaut und eine in den USA. Haben Sie eine Lieblings-Synagoge?
Ich denke, dass mir die Synagoge in Aachen geglückt ist, denn sie drückt insgesamt alles aus, was mir am Herzen liegt.
Sie haben vor 20 Jahren den internationalen Wettbewerb gewonnen und den Auftrag bekommen.
Genau. Es gab damals zwei komplett gegensätzliche Entwürfe von zwei jüdischen Architekten – der eine war mein Plan, der andere Entwurf stammte aus dem renommierten Büro Diener & Diener aus Basel und gewann den zweiten Preis.
Was waren die Unterschiede?
Roger Diener schlug ein Gebäude ohne Fenster vor, in das das Licht nur über die Decke einfallen würde. Wie er es damals ausdrückte, wollte er damit einen Stachel in das Fleisch der Stadt einsetzen. Denn die ehemalige Synagoge wurde 1862 erbaut und 1938 von den Nazis zerstört. Ich hatte eine ganz andere Idee, ich wollte mit diesem Haus sozusagen die Stadt reparieren.
Wie kann man sich das vorstellen?
In Aachen war die ganze Umgebung um den runden Synagogenplatz im Krieg stark zerstört worden. Mit meinem Neubau sollte dieser Platz wiederhergestellt werden. Andere Gebäude, die nachher kamen, fügten sich ein. Heute steht mein Bau wirklich am Synagogenplatz.
Dort gehört sie auch hin.
Das ist die eine Seite, und der andere Aspekt war, dass ich dachte, hier bin ich wirklich in der Mitte einer großen Stadt und möchte gern jüdisches Leben und jüdische Kultur zur Stadt hin öffnen, das für alle Aachener erlebbar machen. Daher hat das Eingangsfoyer auch eine große Glasfront, die sich zum Platz orientiert. Die Synagoge ist in das Foyer eingestellt. So wird das Innere sichtbar. Genau das war mein Anliegen.
Welches Gotteshaus hat Sie am meisten inspiriert?
Wenn Sie das fragen, heißt das ja, bei welcher Synagoge haben Sie denn am meisten in die Vergangenheit geschaut und gedacht, das ist ein Thema, was in der Zukunft auch relevant sein könnte? Kann man das so sagen?
Ertappt. Ja.
Das wäre für mich die Darmstädter Synagoge. Es war auch ein Wettbewerb, den ich gewonnen habe. Dort findet man Anklänge an den Synagogenbau aus der Zeit vor dem Krieg. Die deutschen Synagogen des 19. Jahrhunderts hatten oft zwei kleinere Türme rechts und links vom Eingang, und dann folgte in der Mitte des Synagogenraums eine große Kuppel.
Gibt es noch weitere Bespiele dafür?
Auch der heute verbliebene Rest der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin verwendete diese typischen Formen, die man heute auch an der Synagoge in Darmstadt wiederfinden kann. Mir hat man damals vorgeworfen, dass meine Pläne historisierend seien. Genau 50 Jahre nach der Pogromnacht dachte ich aber: Man darf in diesem speziellen historischen Kontext in Deutschland so bauen. Es gibt gültige, typische Formen. Wenn ich sie in eine moderne Sprache übersetze, ist das legitim. Bei späteren Bauten hat mich dieser geschichtliche Bezug wieder weniger interessiert.
Wer hat diesen Stil geprägt?
Diese Formensprache hat Gottfried Semper in die Architektur eingeführt, als er 1848 die Synagoge in Dresden gebaut hat. Interessanterweise war damals Deutschland sicherlich das Land in Europa, in dem die meisten Synagogen entstanden und welches den neuen Synagogenbau sozusagen erfunden hat, wenn Sie so wollen.
Sehr interessant!
Im 19. Jahrhundert haben die deutschen Juden versucht, mit ihren Bauwerken in der Stadt zum ersten Mal in Erscheinung zu treten und sich nicht mehr irgendwo im Hinterhof in einem Gebetshaus zu verstecken.
Wie planen Sie denn? Haben Sie rasch ein Endergebnis vor Augen?
Weil wir in biblischen Zeiten ein Nomadenvolk waren, bauten wir uns vor den Tempeln zunächst ein Zelt, in dem die Heiligtümer aufbewahrt wurden. Eine Synagoge kann also etwas Variables sein. Die Freiheit, nicht auf eine bestimmte Form festgelegt zu sein, habe ich sehr genossen. Nicht immer waren es formale Erwägungen, aus denen heraus ich ein Bauwerk entwickelt habe.
Kann man heute in Deutschland eine Synagoge bauen, die neu ist und sich auf gar nichts bezieht, sondern einfach ein modernes Haus ist?
Sicher geht das. Als ich den Auftrag in Chemnitz bekam, hatte die Gemeinde dem DDR-Staat bereits 1956 einen eigenen Bau abgerungen. Er sah aus wie ein damals als modern geltendes großes Haus. Ganz unscheinbar. Sein Inhalt bleibt verborgen. Das war Absicht. Für mich kam das nicht in Betracht. Ich baute in Chemnitz dann ein Haus des Buches. Eine Torakrone mit einem großen Fenster in die Welt. Was immer ich gebaut habe, blickt in die Zukunft, steht im Jetzt und hat stets etwas mit unseren Traditionen zu tun.
Sie haben also einen eigenen Weg gefunden?
Vor einigen Jahren war ich zur Eröffnung einer Ausstellung meiner Arbeiten in Uruguay und in Argentinien. Dort fiel mir ein Beruf auf, den nennt man Cartonero. Cartoneros fahren mit Pferd und Wagen durch die Straßen und sammeln Kartons und sperriges altes Zeug ein. Das, was die Stadt nicht mehr haben will. Für kleines Geld liefern sie es ab. Dann wird es wiederverwertet und kehrt in neuer Form in die Stadt zurück. In dem Sinne ist die Arbeit am Synagogenbau hierzulande vielleicht auch so. Man sammelt ein, was Deutschland in der Nazizeit unbedingt loswerden wollte, was es zerstört, verstümmelt und unsichtbar gemacht hat. Und nun kommt man und bringt es als Architekt in neuer Form in die Stadt zurück. Es ist kein Ersatz, aber es ist eine Antwort auf Verlust.
Brauchen denn die Gemeinden heute noch neue Synagogen?
Zwei Wochen nach der Einweihung der Synagoge in Darmstadt am 9. November 1988, genau 50 Jahre nach der Pogromnacht, kam der Historiker Golo Mann, um sich das neue Haus anzuschauen. Er ging mit mir durch das Gebäude und sagte am Schluss: Ja, ich finde es ganz toll. Aber sagen Sie, glauben Sie eigentlich, dass wir heute wieder mit dem Bau solcher Häuser beginnen sollten? Seine Frage war offensichtlich sehr skeptisch gestellt. Ich spürte, dass darin auch impliziert war: Nach allem, was passiert ist, wieso lässt du das nicht bleiben? Das war vor 40 Jahren. Ich sagte ihm damals: Solange es eine Gemeinde gibt, die groß genug ist und ein solches Haus braucht, sollte man es auch bauen. Alles andere wird sich zeigen. 1988 gab es in den Jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik 27.000 zumeist ältere Mitglieder. Heute sind wir etwa fünfmal so viele.
Sie bauten weiter, es folgten unter anderem die Gotteshäuser in Kassel, Heidelberg, Speyer und in Park City in Utah (USA). Demnächst wird die Synagoge in Dessau eingeweiht.
Dazu will ich von etwas erzählen, das mich sehr berührt hat: Der Vorkriegsrabbiner von Hamburg, Rabbi Josef Carlebach, der später in Auschwitz umkam, ging direkt nach der Pogromnacht durch seine Stadt. Die Große Synagoge war niedergebrannt worden. Es gab aber noch ein kleines Gebetsstübchen, das sich damals unversehrt in einem Wohnhaus im Souterrain befand. Das Haus wurde später bei einem Luftangriff auf Hamburg komplett zerstört. Davor war es Rabbi Carlebach noch gelungen, die sehr schönen Wiener Jugendstilmöbel aus dem Betsaal der kleinen Gemeinde als angebliches Küchenmobiliar zu verpacken und sie 1940 einem nach Stockholm emigrierten Freund als Schiffsfracht zu schicken. Er schrieb ihm: Wenn du kannst, gründe eine Gemeinde um diese Möbel. Sein Freund ist dem gefolgt. Ohne Rabbi Carlebachs Vision, der trotz dunkelster Zeit die Vorstellung von einem »Am Israel Chai« hatte, gäbe es diese Gemeinde nicht. Vor einiger Zeit wurde mein Büro von ihr beauftragt, für sie eine kleine Synagoge in der Stadtmitte zu entwerfen.
Was denken Sie über den Wiederaufbau in Hamburg?
Es ist zu hinterfragen, wie sinnvoll das ist. Ich sehe das sehr kritisch. Gerade einen solchen Bau sollte man nicht wiederherstellen, ganz genau so, wie er einmal war. So zu tun, als wäre nichts geschehen, halte ich für falsch.
Kann man Synagogen klimafreundlich bauen?
Ja. Das hat aber mehr mit Material und Bautechnik zu tun und weniger damit, wie man sich in die Stadt hineinstellt.
An welches Erlebnis erinnern Sie sich besonders gern?
Einer der Gäste, die zur Eröffnung der Neuen Synagoge nach Kassel kamen, war mein Jugendfreund Moritz Neumann. Er war mein Bauherr in Darmstadt gewesen. Als sprachgewandter Vorsitzender der Jüdischen Gemeinden in Hessen sollte er die Eröffnungsrede halten. Ich ging mit ihm vor Beginn der Eröffnungsfeier in die Synagoge. Moritz blieb am Eingang stehen, hielt inne und sagte: Oh, wie ist das schön. Und dann: Aber meine Synagoge in Darmstadt ist die schönere!
Was hat Sie dazu bewogen, Architekt zu werden?
Mein Vater war Architekt, und meine Eltern wollten gern, dass ich ihm nachfolge. Ich suchte aber etwas Eigenes. Deshalb studierte ich zuerst Mathematik, Physik und Chemie. Nach einem Jahr fand ich es aber zu trocken und habe dann etwas widerwillig angefangen mit der Architektur. Nach und nach fand ich heraus, dass es genau das ist, wonach ich gesucht hatte. Ein Beruf, der Wissenschaft mit Geschichte und Kunst verbindet.
Aber Sie planen nicht nur Synagogen?
Synagogen zu bauen, ist für mich eine Arbeit an einem Stück eigener Identität. Aber natürlich gibt es andere Aufgaben. Im Moment baue ich das Bürgeramt der Stadt Frankfurt.
Sie waren auch lange Zeit Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Offenbach.
Fast 20 Jahre lang. Mit meinen Kollegen und Mitarbeitern haben wir viel erreicht. Als ich vor einem Jahr nicht wieder kandidierte, hat mich der neue Vorstand zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Ein wenig Verantwortung für die Gemeinde bleibt mir also erhalten.
Das alles hört sich nach sehr intensiven Arbeitstagen an. Wie erholen Sie sich davon?
Indem ich mir ein bisschen weniger vornehme und trotzdem noch mit Studenten an der Uni zusammenarbeite.
Was ist Ihr architektonischer Lieblingsplatz?
Die Klagemauer. Es ist die größte Synagoge der Welt. Sie hat nur eine Wand. Und der Himmel ist ihr Dach.
Mit dem Architekten sprach Christine Schmitt.