Die Kameraperspektive verzerrt ein wenig. Massen sind am Sonntag nicht auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor erschienen, um gegen Antisemitismus aufzustehen. Viele jüdische Teilnehmer bedauern das, denn sie sind von weit her gekommen und haben sich mehr Unterstützung von der Zivilgesellschaft erhofft.
In 50 Bussen waren sie nach Berlin angereist. Rechts und links sind die Fahrzeuge entlang der Straße des 17. Juni geparkt. Müde steigen die Menschen aus. Fahrten von bis zu neun Stunden liegen hinter ihnen. Eine der weitesten Strecken hat die 16-jährige Dalina hinter sich. Sie wolle den Magen David »endlich wieder offen auf der Straße tragen können«, wünscht sich die Münchnerin.
Gespräche Obwohl er ungern auf Demonstrationen geht, ist Alexander Schif aus Würzburg angereist und hat die rund fünfstündige Fahrt sogar als Erlebnis empfunden. Die Gespräche im Bus seien sehr interessant gewesen, erzählt der 47-Jährige. Im Bus der Jüdischen Gemeinde waren auch Mitglieder der Christlich-Jüdischen Gesellschaft mitgereist. »Wir haben viel über Antisemitismus, Gemeinsamkeiten und Trennendes geredet und wollen im Gespräch bleiben.«
Gespräche und Nachhaltigkeit, das wünschen sich viele der rund 8000 Demonstranten. »Dieser Tag ist richtig, der Ort ist richtig, es ist wichtig, dass wir zusammenkommen und alle Gemeinden hier angereist sind«, sagt Rabbinerin Alina Treiger aus Oldenburg. Man müsse an Israels Seite stehen, doch derzeit sei es nicht einfach, sich als Jude oder Jüdin in Deutschland zu zeigen.
»Viele scheuen sich davor. Umso wichtiger ist eine solche Demonstration.« Sie genügt ihr jedoch keinesfalls. Die vergangenen Wochen mit dem Judenhass von muslimischen Demonstranten hätten gezeigt, dass der Dialog der Religionen deutlich verstärkt werden müsse. Mit der Aufklärung über das Christentum, das Judentum und den Islam müsse bereits in der Schule begonnen werden, sagt die Mutter eines kleinen Sohnes.
Altes Problem Michael Groys aus Berlin ist erst 23 Jahre alt. Doch auch er weiß an diesem Tag: »Antisemitismus ist kein neues Problem. Dagegen müssen wir aufstehen.« Er glaubt, dass die aktuelle Kultur des Judenhasses neu ist. Infolge des Gaza-Krieges scheinen für Groys »alle Dämme gebrochen« zu sein.
»Wir erleben ganz schlimme Zeiten«, ist sich Adrian Flohr aus Düsseldorf sicher. Für das Direktoriumsmitglied des Zentralrats ist es selbstverständlich, an diesem Tag vor dem Brandenburger Tor zu demonstrieren. »Was man den Juden antut, tut man auch dem Staat Israel an.« Er befürchtet, dass der Höhepunkt des Judenhasses noch nicht erreicht ist. Die Front reiche von extrem rechts über Linke bis zu Islamisten. Das erlebe er gerade in Nordrhein-Westfalen besonders stark, sagt Flohr.
Angriffe Mit antisemitischen Attacken hat Leonid Goldberg Erfahrung machen müssen. Auf die Wuppertaler Synagoge war im
Gefolge der Gaza-Demonstrationen ein Brandanschlag verübt worden. Immer wieder hat es in der Stadt antijüdische Schmierereien gegeben, sind Juden auf offener Straße beschimpft worden. »Wenn nicht wir aus Wuppertal hier demonstrieren sollten, wer denn sonst?«, fragt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde.
Doch ist es allein eine Sache der jüdischen Gemeinschaft, hier vor dem symbolträchtigen Tor zu stehen, das wie kaum ein anderer Ort für die Freiheit von Menschen steht? »Ganz eindeutig nein«, sagt der ehemalige Geschäftsführer des Landesverbandes Nordrhein, Herbert Rubinstein, der mit seiner Familie und Freunden nach Berlin gekommen ist.
Der 78-Jährige bedauert es sehr, dass nur wenige Nichtjuden dem Aufruf gefolgt sind und dass der Zentralrat die Initialzündung für die Demonstration geben musste. »Antisemitismus ist Menschenfeindlichkeit« und gehe daher jeden an. Mit 70 Leuten sind sie aus Düsseldorf angereist, darunter 35 Mitglieder der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
Migranten Auch Diana Sandler, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Barnim, sieht die Mehrheitsgesellschaft in der Pflicht, etwas gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu unternehmen. »Rassismus ist nach wie vor ein großes gesellschaftlichen Problem«, weiß die Integrationsbeauftragte und Antidiskriminierungsberaterin. Die antisemitischen Demonstrationen des Sommers hätten gezeigt, dass auch Migranten rassistisch, genauer gesagt: antisemitisch, sein können.
»Die Kundgebung war absolut notwendig«, sagen Raissa, Svetlana, Wladimir und Galina aus Brandenburg. Vor mehr als 20 Jahren sind sie aus Russland nach Deutschland gekommen und vor Antisemitismus geflohen, »um jetzt hier wieder Antisemitismus zu erleben«. Das hätten sie sich nicht vorstellen können.
Die 79-jährige Gisela Hein ist eine der wenigen nichtjüdischen Demonstrantinnen in Berlin. Sie erinnert sich an ihre Kindheit und die Nachbarsfamilie in Neukölln. Sie hatten ein Puppengeschäft, in dem sie immer mit großen Augen herumstöberte. »Von einem auf den anderen Tag waren sie verschwunden. Nach dem Krieg habe ich erfahren, weshalb. Nie wieder! Wehret den Anfängen!«, ruft die alte Dame.
Internet Auch die jungen Gemeindemitglieder haben die Warnzeichen erkannt: Gabi (13) aus Kassel wollte unbedingt ihre Familie nach Berlin begleiten. Von Antisemitismus sei sie eigentlich nicht betroffen, meint sie. Sie geht auf ein katholisches Gymnasium, »die sind alle supernett zu mir«. Aber im Internet ist sie schon einmal mit »Scheiß Jüdin« beschimpft worden. »Wenn Leute auf Facebook ›Kindermörder Israel‹ posten und ich was dagegen sage, wird es unschön«, hat sie erfahren. »Ich verstehe nicht, warum die Leute beim Thema Israel und Juden so austicken.«
Schlechte Facebook-Erfahrungen hat auch Lionel Reich aus Köln gemacht. »Auf Facebook hat der Hass auf Juden wirklich überhandgenommen. Das ist teilweise ziemlich krass, was man da zu lesen bekommt«, erzählt der 16-Jährige aus Köln. »Dazu sollte niemand schweigen – das wäre eine indirekte Zustimmung.«
»Wir müssen etwas gegen Antisemitismus tun«, sagt Elvira Noah. Mit den Gaza-Demonstrationen sei er nahezu explodiert. Mit zwei Bussen ist die Bremer Gemeinde nach Berlin gekommen. Ein Berliner Bekannter ist vor Kurzem nach dem Besuch der Synagoge auf der Straße tätlich angegriffen worden, sodass er von einem Polizeibeamten zur U-Bahn eskortiert werden musste. »Dass das 2014 noch notwendig ist, habe ich mir nicht vorstellen können«, sagt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bremen.
GEmeinsames Auftreten »Deswegen müssen alle gemeinsam auftreten«, sagt Rabbiner Jonah Sievers aus Braunschweig. »An einem solchen Tag ist es wichtig, dass sich die jüdische Gemeinschaft in voller Stärke zeigt. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass so eine Veranstaltung von der Zivilgesellschaft ausgegangen wäre. Denn schließlich ist der Antisemitismus ein Problem dieser Zivilgesellschaft, erst recht nach diesem schlimmen Sommer.«
»Wir wollen ein vitales Zeichen setzen, dass Zentralrat und Gemeinden gemeinsam gegen Antisemitismus und Rassismus aufstehen. Wir wollen angesichts des vermehrten Antisemitismus nicht in Sprachlosigkeit verfallen, sondern uns noch stärker dagegen engagieren. Wir zeigen: Wir treten auf, wir treten an.« Das solle vor allem auch eine Stärkung der Mitglieder bewirken, sagt Barbara Traub, die Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs und im Zentralratspräsidium zuständige Referentin für den Kontakt zu den Gemeinden.
Unbelehrbare »Wir wollen gar nicht die unbelehrbaren Antisemiten ansprechen«, sagt der Frankfurter Rabbiner Julian-Chaim Soussan. Doch er hat die Hoffnung nicht aufgegeben. »Es gibt viele, die nur einen Stups brauchen, um doch noch in die richtige Richtung weiter zu gehen«, ist Soussan überzeugt. Deswegen dürfe es auch nicht bei diesem einen Tag bleiben. Danach müsse es weitergehen, und da seien alle Kräfte gefragt.
Soussans Kollege, der Kölner Gemeinderabbiner Jaron Engelmayer, pflichtet ihm bei. »Es liegt auf der Hand, warum ich heute hier bin. Antisemitismus ist für uns eine Existenzfrage. Wenn Juden in Deutschland leben wollen, dann kann es nicht sein, dass sie auf offener Straße angepöbelt und attackiert werden.«
»Für jeden jüdischen Menschen ist es wichtig, heute hier zu sein«, sagt Leipzigs Gemeindevorsitzender und Präsidiumsmitglied Küf Kaufmann, »ob sie nun physisch anwesend sein können oder aufgrund von Gebrechen und Alter nicht so weite Anfahrtswege bewältigen konnten und im Geiste bei uns sind.« Und auch Kaufmann weiß: »Das reicht heute hier natürlich nicht aus.«
Gesicht zeigen Trotz seiner 83 Jahre ist auch Wolfgang Nossen nach Berlin gekommen. »Ich will an diesem Tag im wahrsten Sinne des Wortes Gesicht zeigen«, meint der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. »Der Antisemitismus war immer da und hat immer wieder Tritt gefasst«, sagt Nossen. »Wenn ich jünger wäre, würde ich nicht hierbleiben. Wie gefährlich auch immer die Situation in Israel ist, mir ist es lieber als das friedliche Deutschland«, sagt Nossen. Aus der Gesellschaft heraus kommt ihm zu wenig Widerstand gegen Judenhass.
»Israel ist der Jude unter den Staaten geworden«, sagt Iris Pollatschek aus Frankfurt am Main. »Viel zu oft wird unter dem Deckmantel der sogenannten Israelkritik purer Antisemitismus geschürt. Als Jüdin, Filmregisseurin und Mutter von drei Kindern kämpfe ich dagegen an.« Die Kundgebung sei dazu eine gute Gelegenheit.
Zivilgesellschaft Flagge zeigen will auch Mark Dainow an diesem Tag. Der Offenbacher hält es für »sehr wichtig, der Zivilgesellschaft zu zeigen, dass Juden sich solidarisieren«. Ein beträchtlicher Anteil des Judenhasses sei importiert, ist der 65-Jährige überzeugt. »Junge Muslime kriegen es häufig von zu Hause mit.« In diesem Zusammenhang macht das Präsidiumsmitglied des Zentralrats auch die deutsche Politik verantwortlich. »Sie muss sich sagen lassen, wo sie versagt hat.« Dass der Zentralrat zu einer solchen Kundgebung aufrufen musste, hält Dainow für ein Armutszeugnis.
Die Gemeinden Delmenhorst und Oldenburg haben für diesen Tag einen gemeinsamen Bus gechartert. »Es ist wichtig, dass wir alle unser jüdisches Gesicht zeigen«, sagt Delmenhorsts Gemeindevorsitzender Pedro Becerra. Die Juden in Deutschland seien wegen der antisemitischen Ausfälle und Israels Politik in diesem Sommer stark verunsichert. »Deswegen ist es gut, dass alle Gemeinden gekommen sind.« Auch dass viele Politiker an diesem Sonntag erschienen sind, »dass sie nicht wie sonst Sonntagsreden gehalten, sondern gemeinsam Gesicht gezeigt haben«, findet Becerra gut.
»Die Worte von Ronald S. Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, der davor gewarnt hat, sich die gute Arbeit der vergangenen 70 Jahre kaputt machen zu lassen, kamen gut bei uns an. Vor allem, dass er die letzten Worte auf Deutsch gesagt hat, fand ich sehr sympathisch«, sagt Becerra. Sein Bus steht schon wieder zur Rückfahrt bereit.