Mit dem Krieg, den Deutschland am 22. Juni 1941 gegen die Sowjetunion vom Zaun brach, nahm der Völkermord an den Juden Osteuropas weiter Fahrt auf. Im NS-Dokumentationszentrum fand dazu am 75. Jahrestag vergangene Woche Mittwoch eine Kooperationsveranstaltung der Offenen Akademie der Münchner Volkshochschule und dem Archiv »Lebendige Erinnerung« statt.
Dieses bei der Sozialabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde angesiedelte Archiv unter Leitung von Rimma und Andrej Semenov sammelt seit 2008 Erinnerungen jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die in München eine neue Heimat fanden.
biografien Für den Historiker Jürgen Zarusky sind diese Materialien ein wahrer Erinnerungsschatz. Zusammengetragen werden sie auf Grundlage der Befragungen und Archive der Shoah Foundation von Hollywood-Regisseur Steven Spielberg und dem Centropa-Dokumentationszentrum in Wien. Aus dem digitalen und fotodokumentarischen Archiv der Erinnerungen von aus den GUS-Staaten emigrierten Juden wurden für diesen Abend zwei Schicksale ausgewählt.
Die Odyssee von Boris Tschernjakow führte von seiner Geburtsstadt Babrujsk in Weißrussland, wo er 1929 geboren worden war, über Taschkent bis nach Kasalinsk. Dass der bei Kriegsbeginn Zwölfjährige überlebte, grenzt an ein Wunder. Der Zeitzeuge des zweiten Porträts, David Duschman, nahm an der Gedenkstunde selbst teil. Der 93-Jährige, so erfuhr man aus der von Jürgen Zarusky gemeinsam mit dem Ehepaar Semenov zusammengestellten und von Caroline Ebner und Thomas Loibl gestalteten Lesung, erlebte die Verbannung seines Vaters 1938 zur »Zeit des Großen Terrors«.
Statt sich seiner Leidenschaft, dem Fechten, zu widmen, fand sich der 18-jährige Duschow schon am zehnten Kriegstag in einem Panzer Richtung Westen wieder. Er nahm an der Befreiung von Auschwitz teil und sagt heute: »Hätten wir uns nur um ein paar Tage verspätet, wäre es kaum gelungen, noch irgendjemanden zu retten.« Der mehrfach Verwundete wurde später, 1951, »Meister des Sports« in der Sowjetunion und trainierte Welt- und Europameister sowie Olympiasieger im Fechten.
Wehrmacht Jürgen Zarusky hatte in seiner Einführung darauf hingewiesen, dass der Ostfeldzug bei der Bevölkerung der Sowjetunion »ein tiefes deutsches Trauma« verursachte – auch und insbesondere mit Blick auf die Wehrmacht, bei der von einem »sauber« geführten Krieg spätestens seit den Erkenntnissen der 1997 auch in München gezeigten Wehrmachtsausstellung keine Rede mehr sein kann. Über zweieinhalb Millionen Juden ermordeten die deutschen Truppen während ihres Überfalls auf die Sowjetunion.
Winfried Nerdinger hatte in seinem Grußwort als Direktor des NS-Dokumentationszentrums beklagt, dass der 22. Juni 1941, dieses geschichtsträchtige Datum, im politischen Tagesgeschäft der Bundesrepublik so gut wie gar nicht vorkommt. Zumindest in seinem Haus ist an diesem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion angemessen gedacht worden.